Michael Haneke (November 2005)

Herr Haneke, haben Sie schon mal nachgezählt, wie viele bürgerliche Familien Sie in Ihren Filmen gequält haben?

Na ja, wahrscheinlich so viele wie ich Filme gemacht habe. Ich spreche immer von bürgerlichen Leuten; das sind die einzigen, die ich wirklich kenne. Außerdem stellt das bürgerliche Milieu den Großteil der Zuschauer, die sich meine Filme anschauen. Damit schaffe ich den größtmöglichen Identifikationswert.

Kann es sein, dass Sie einer österreichischen Tradition folgen? Wenn man Thomas Bernhard oder Elfriede Jelinek liest, spürt man einen ähnlichen Sadismus gegenüber dem Bürgertum.

In der Nachkriegszeit haben die Österreicher gerne unangenehme Wahrheiten unter den Teppich gekehrt. Als Intellektuelle und Künstler fühlten sich Bernhard und Jelinek verpflichtet, im Dienste der Wahrhaftigkeit zu arbeiten – und das mit relativ lauter Stimme. Aber wenn Sie sich die Literatur der Gruppe 47 in Deutschland anschauen, war das ja auch eine Reaktion auf das, was vorher passiert ist. In Ländern, in denen es keinen Faschismus gab, ist die Auseinandersetzungsform sicherlich eine andere.

Zum Beispiel in Frankreich. Dort hat sich Claude Chabrol auf ganz andere Art mit den Zwängen und Lebenslügen des Bürgertums auseinandergesetzt. In „Caché“ dringen Sie sozusagen mit österreichischer Quällust auf Chabrol-Gelände vor.

Gegen solche Interpretationen habe ich nie etwas. Sie sind richtig und auch nicht. Aber Chabrol macht für mich seit 40 Jahren den gleichen Film – was ich hoffe, nicht zu tun. Ich habe seine Filme in den 50er und 60er Jahren sehr genossen, unter anderem weil ich sie sehr lustig fand. Chabrol hat ja einen bösen Humor. Im Gegensatz zu mir: Ich bin weniger lustig (lacht). Aber das ist mittlerweile zu einer Masche geworden, mit der ich mit ungern identifiziere.

Eines der Argumente Ihres Films lautet, dass die Zivilisiertheit des Bürgertums auf Verdrängung basiert.

Ja, das Wort „caché“ bedeutet „versteckt“, „verborgen“. Es geht um alles, was unter den Teppich gekehrt wurde, individuell und kollektiv. Aber ich glaube, das passiert nicht nur im Bürgertum sondern bei jedem von uns. Wir tun ständig jemand anderem etwas an, ob bewusst oder unbewusst. Das kann manchmal in bester Absicht sein. Wenn man das alles im Kopf behielte, würde man wahnsinnig. Das ist die gesunde Seite des Vergessens. Aber es gibt eben aber auch eine ungesunde, perverse, sehr gefährliche Seite des Vergessens.

Im „Caché“ finden unter anderem Erwähnung der Algerienkrieg, das Erbe des Kolonialismus, der unterschwellige französische Rassismus, der Klassenunterschied zwischen Bürgertum und Einwanderern. Wenn dann in einem französischen Film auch noch ein Hahn geköpft wird, das Symbol Frankreichs…

…daran habe ich überhaupt nicht gedacht.

Sie sehen den Film also nicht als politische Allegorie über Frankreich?

Nein, erstens tue ich mir mit Allegorien immer schwer. Wenn Sie ein Drama von Tschechow als Abgesang auf die russische Gesellschaft interpretieren, ist das nicht falsch. Es verfehlt nur das Wesentliche des Stücks. Zweitens spreche ich zwar von der französischen Gesellschaft, aber ich möchte den Film nicht auf Frankreich begrenzt sehen. Meine erste Intention ist die Frage zwischen individueller und kollektiver Schuld. Und in jedem Land gibt es genügend dunkle Flecken – und gerade in Deutschland braucht man sich über einen Mangel nicht zu beklagen –, wo individuelle Schuld und kollektive Schuld sich decken.

Wie in „Funny Games“ setzen Sie sich auch dieses Mal mit den Mechanismen des Psychothrillers auseinander.

„Funny Games“ ist eine Reflexion über das Genre. Bei „Caché“ ist es anders. Da benutze ich das Vokabular des Genres, um ein Problem darzustellen. Wenn man sagt, der Film sei ein Thriller, habe ich nichts dagegen. Aber ich hoffe doch, dass es mehr ist. Der Thriller erschöpft sich ja in sich selber

Könnte man sagen, dass „Caché“ ein intellektueller Thriller ist, dem der Thrill genommen wurde?

Der Thrill und die Spannung wurden dem Film hoffentlich nicht genommen. Langweilig ist er ja, glaube ich, nicht. Was ihm genommen wurde, ist die Versöhnlichkeit. Im Originalthriller darf man, wie in der Geisterbahn, durch ein Bad des Schreckens gehen, aber am Schluss kommt man wieder heraus und alles ist in Ordnung. Bei ist das nicht so.

Auch daran erkennt man, dass bei Ihnen die Auseinandersetzung mit dem eigenen Medium immer eine wichtige Rolle spielt. Warum diese selbst-referentiellen Elemente?

Das Kino und die audiovisuellen Medien sind die Inkarnation der Manipulation. Wenn der Film eine Kunstform sein soll, hat er die Verpflichtung den manipulativen Charakter seiner selbst im Werk zu reflektieren. Das ist der Grund, warum ich in meinen Filmen – von „Bennys Video“ über „Funny Games“ und „Code inconnu“ bis „Caché“ – dem Zuschauer immer wieder vor Augen führe: „Moment! Siehst Du eigentlich wie ich Dich am Gängelband habe?“ Ich verschaffe dem Zuschauer Klarheit darüber, dass er Opfer einer Manipulation ist, egal auf welche Weise eine Geschichte erzählt wird.

Das Gegenteil des klassischen Illusionskinos.

Das Zerstreuungskino Hollywoodscher Prägung hat einen ganz anderen Zweck, nämlich eine Ware möglichst optimal zu verkaufen. Das ist Business. Und wenn das gut gemacht ist, kann es sehr vergnüglich sein. Es ist nur nicht das, was mich interessiert.

Dennoch kritisieren Sie in Interviews gerne die „Lust an der Illusion“.

Ich glaube, dass Illusionen notwendig aber auch gefährlich sind. Wenn wir unglaublich privilegierten, in den reichen Ländern lebenden Menschen uns anschauen, wie viele Millionen Menschen elendiglich leiden und hungern, haben wir alle ein schlechtes Gewissen und gleichzeitig ein wahnsinniges Gefühl von Ohnmacht vis-à-vis der Kompensierung dieses schlechten Gewissens. Deshalb stürzen wir uns in Illusionen. Das ist verständlich und auch nicht zu verdammen. Aber darin liegt ein Keim von Faschismus. Der Punkt, wo die Illusion ins Gefährliche kippt, ist schwer auszumachen.

Als jemand, der das Hollywood-Kino schätzt, muss ich Einspruch einlegen. Das klingt mir zu sehr nach Adorno und seiner überzogenen Kritik der Kulturindustrie.

Da habe ich nichts dagegen. Für mich ist Adorno immer noch eine verbindliche Stimme (lacht). Heute wird das fast wie ein Vorwurf vorgebracht. Adorno, das ist irgendwie von vorgestern. Aber was ist heute avancierter? Zu sagen: „Das Leben ist Fun!“ – ist das die Alternative?

Das Illusionskino versucht doch, Bedürfnisse des Zuschauers zu befriedigen und Mängel zu kompensieren. Nehmen Sie Thriller und Horrorfilme: Weil wir uns im Kinosaal gemeinsam fürchten, entsteht im Kinosaal ein temporäres Gemeinschaftsgefühl, das uns im Alltag abgeht.

Ja, aber das alles ist von schlagartiger Folgenlosigkeit! Sobald der Film aus ist, gehen alle raus. Und wenn dich einer anrempelt, ist er nicht mehr Teil deiner Gemeinschaft, sondern jemand, der dich stört. Wenn ich als weniger privilegierter Mensch jeden Tag 10 Stunden stupide Dinge tue, die mich total fertig machen, dann will ich am Abend, wie man so schön sagt, abschalten. Dafür ist das Fernsehen erfunden. Um aber das Fernseher nicht abzuschalten, muss das Programm so blöd sein, dass man innerlich abschalten kann. Ich werde keinem, der unter diesen Umständen lebt, etwas vorwerfen, denn der ist ein Opfer. Aber ich würde es denen vorwerfen, die damit ihr Geld verdienen.

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