Oktober 2019 in Filmbulletin
«Die Zeit ist längst stehen geblieben. Der Rest ist Warten aufs Alter.» So lautet das bittere Motto von Yaojun und seiner Frau Liyun. Mitte der Achtzigerjahre arbeiten sie in einer Fabrik im Norden Chinas, wo sie aus Lautsprechern mit Propaganda beschallt werden: Vaterlandsliebe wird gefordert, Hingabe zur Partei diktiert. Feiern dürfen sie nur leise – die Ohren der Nachbarn im engen Mehrfamilienhaus könnten mithören. Als Liyun ein zweites Mal schwanger wird, entkommt sie dem eisernen Griff der Partei nicht: Ihre beste Freundin Haiyan, die standfeste Zinnsoldatin vom Planungsbüro, drängt zur Abtreibung. Die Einkindpolitik der kommunistischen Führung lässt es nicht anders zu.
Dieser blutige Schwangerschaftsabbruch wird nicht der einzige Verlust des Paares bleiben. Um ihrer Trauer irgendwie Herr zu werden, flüchten Yaojun und Liyun in ein entferntes Küstenstädtchen in der Fujian-Provinz im Südosten. Es ist eine Gegend, deren Dialekt sie nicht verstehen und deren Entwicklung einem gemächlicheren Rhythmus gehorcht als der furiose Trommelwirbel ihrer Heimat, der alle Traditionen übertönt und alles und jeden zum strammen Gang in die Zukunft treibt. «Das Leben hier hat nichts mit uns zu tun», sagt Yaojun erleichtert. Doch natürlich entkommen sie auch dort der Vergangenheit nicht.
Das Melodram – und So Long, My Son ist ein berührendes, nie sentimentales Melodram – lebt von unerwarteten Verstrickungen und Enthüllungen unerhörter Begebenheiten. Diese hier zu verraten, würde den Film entkernen und ihn seiner emotionalen Effekte berauben. Deshalb nur so viel: Mit grosser Sensibilität wirft der 53-jährige Regisseur Wang Xiaoshuai (Beijing Bicycle), einer der Protagonisten des Kinos der Sechsten Generation, Fragen danach auf, wie weiterleben kann, wer Kinder verloren hat, und wie diejenigen damit zurechtkommen, die sich dafür verantwortlich fühlen. Es wäre einen Versuch wert, So Long, My Son neben ein anderes jüngeres Meisterwerk über den Tod der eigenen Kinder zu stellen, Kenneth Lonergans Manchester by the Sea (2016). Dabei könnte man einiges darüber lernen, wie sich Trauergesänge in sehr unterschiedlichen Tonarten anstimmen lassen.
Wang und sein thailändischer Cutter Lee Chatametikool wählen für ihre Erzählung die Form einer Springprozession: Leichtfüssig hüpfen sie vor und zurück in der Zeit, springen vom Jahr 1994 in die Achtzigerjahre oder nach vorn ins Jahr 2011. Dieses beständige Hin und Her dynamisiert die Handlung und lässt, anders als ein linearer Plot, Gegensätze aufeinanderprallen. Für die Zuschauer_innen hält dies die nicht ganz triviale Herausforderung parat, dass sie die Szenen wie in einem 1000-Teile-Puzzle zu einem Bild zusammenfügen müssen. Weil viele Dinge nicht lautstark durchdekliniert, sondern nur leise angedeutet werden, und weil Wang Ellipsen einstreut und die Dialoge oft lakonisch hält, kann man So Long, My Son getrost als das Gegenteil von kulturindustrieller Unterforderung bezeichnen. Die 180 Minuten Länge tun ein Übriges, um die Marktnormen zu unterlaufen.
Nichts wäre jedoch verfehlter, als diesen still-traurigen Versuch über das Nicht-vergessen-Können und die Widerspenstigkeit der Vergangenheit als sperrig und selbstgefällig abzutun. Im Gegenteil: Der Film lebt von einer unaufdringlichen Kunstfertigkeit, deren Virtuosentum sich vielleicht erst beim zweiten oder dritten Sehen voll erschliesst. Wang arbeitet sanft mit motivischen Wiederholungen und musikalischen Leitmotiven wie Mozarts «Rondo alla Turca» und dem melancholischen Abschiedslied «Auld Lang Syne». In den grün- und blaustichigen Bildern seines koreanischen Kameramanns Kim Hyun-seok sind die Farben dezent aufeinander abgestimmt. Breite Panoramaeinstellungen und beengte Interieurs wechseln sich ebenso ab wie bedächtige Schwenks und eine leicht verwackelte Handkamera. Nicht zuletzt setzt Wang auf subtile Zeichen populärkulturellen Wandels: Im Jahr 1986 ist es noch verboten, Boney M. zu hören, während acht Jahre später der Mickey-Maus-Rucksack für Kinder schon erlaubt zu sein scheint.
Seit den Anfängen der Filmgeschichte – spätestens aber seit D. W. Griffiths The Birth of a Nation (1915) – sucht das Melodram die Nähe zum Historienfilm. Auch Wang Xiaoshuai flicht private Passion und Geschichte der Nation ineinander. Anders als dem gemeinen Historienfilmer gelingt ihm, was man in Anlehnung an Roland Barthes’ «Realitätseffekt» einen «Historizitätseffekt» nennen könnte: Durch die Häufung vermeintlich unwichtiger Details – in schäbigen Gemeinschaftsküchen kochen, kaputte Fischernetze flicken, rostige Metalltore schliessen – scheint das Vergangene tatsächlich greifbar zu werden. Dazu tragen auch Setdesign und Choreografie bei: Die Kulissen wirken nie wie angemalte Studiodörfer, und man glaubt nicht ständig, die Komparsen müssten gerade den Ruf erhalten haben, sich in Bewegung zu setzen. Häufig lässt Wang Xiaoshuai eine steife Brise durch seinen Film fauchen, als wäre sie Symbol für den rauen Wind des Wandels. Letztlich dienen die spektakulären Effekte von Deng Xiaopings «Vier Modernisierungen» vor allem der Charakterisierung seiner Protagonist_innen: Anders als die Zuschauer_innen bleiben sie dem Wandel gegenüber blind. Aus der Zeit gefallen und in Trauer aufgelöst, scheinen sie lediglich auf ihr Ende zu warten. Oder glimmt vielleicht doch noch ein Funken Hoffnung?