„Gattaca“ (1997) von Andrew Niccol
Wir müssen doch nicht alles machen, was wir können.- Nein, wir müssen nicht.- Aber? – Aber, wir werden es machen.- Und weshalb? – Weil wir nicht ertragen, wenn der kleinste Zweifel bleibt, ob wir es wirklich können.
(Hans Blumenberg: „Alles über Futurologie. Ein Soliloquium“)
Vincent Freeman will zu den Sternen. Voller Sehnsucht blickt er den Weltraumraketen nach, die am Horizont in die blaue Unendlichkeit starten. Ihn treibt das romantische Verlangen nach der Ferne und dem Unergründlichen. Und Vincent Freeman will vor allem weg von der Erde. Denn die Erde ist nicht gut. Sterilität, Gefühlskälte und Gleichförmigkeit herrschen. Kontrolle regiert.
Menschliche Perfektion ist Gebot. Kinder werdem vom Hausgenetiker im Reagenzglas zusammengestellt. Wer in Vertrauen auf Gott geboren wurde, gilt als Invalide, als outcast, als Unterschicht. Vincent ist so einer: Sein Erbgut ist nicht einwandfrei. Die verteufelte DNS hat ihm einen Herzfehler untergejubelt. Und auch die Augen sind schlecht. Im Raumfahrtkonzern Gattaca taugt er höchstens zum Saubermachen. Doch jenseits der Scheiben, die er blitzblank putzt, wartet sein Traum vom Fliegen.
Anything goes, alles ist machbar in dieser Welt. In Sekunden wird ein Fingerabdruck, ein Haar, der Hauch eines Kusses identifiziert; in Sekunden ist eine Persönlichkeit schwarz auf weiß ausgewertet. Darf ich dieses Persönlichkeitsbild lieben? Oder sollte ich vielleicht doch ein anderes…? Identität definiert sich nicht mehr über banale Dinge wie Aussehen oder Charakter. Fotos sind längst nur noch Schmuckwerk. Identität – das ist die DNS!
Diese Welt ist: „Die nicht allzu ferne Zukunft“. Das jedenfalls sagt uns ein Insert am Anfang. Und wenn ein Film damit beginnt, kann man sich gewöhnlich auf die Extraportion Moral einstellen. Auch „Gattaca“ verhehlt seine Botschaft nicht. Doch der Film verpackt sie so gekonnt, daß das Auspacken schon wieder Spaß macht. Das Drehbuch webt vier Handlungselemente zu einer faszinierenden Gentechnik-Vision zusammen. Eine Anti-Utopie, in der – selbstverständlich – die Geister Orwells und Kafkas spuken. Eine hochaktuelle Fiktion, in der Totalitarismus und Anonymität anklingen – vom Kameramann Slawomir Idziak, den man noch von seinen Arbeiten mit Kieslowski kennt, in kühl komponierten, gelb-, blau- und grünstichigen Bildern dargestellt. Der schöne neue Mensch: Bei uns klopft er bald an die Tür, hier hat er sich schon breit gemacht.
Vier Handlungselemente. Erstens, die Geschichte vom Aufstieg des Vincent Freeman, die sagen will: Selbst ein Invalide kann es schaffen, wenn er nur schlau genug ist. Vincent (Ethan Hawke) wendet sich an einen mysteriösen DNS-Makler. Der bringt ihn mit dem querschnittsgelähmten Jerome Morrow (Jude Law) zusammen, einem ehemaligen Schwimmstar mit perfekten Genen. Um seinen Traum zu verwirklichen, ist Vincent bereit, die eigene Identität zu opfern: Er benutzt Morrows Blut, Urin, Haare, kurz: dessen Erbgut, um sich als Raumfahrer bei Gattaca einzuschleichen. Das funktioniert – bis eines Tages ein Mord in der Firma geschieht. Hier setzt, zweitens, die Kriminalgeschichte ein. Die Untersuchungsbeamten (Alan Arkin und Loren Dean) entdecken eine Wimper Vincents. Sein Erbmaterial scheint ihn zu verraten. Die Jagd auf den Invaliden beginnt. Eine lange Rückblende hatte zuvor bereits, dritter Handlungsstrang, den Konflikt der beiden ungleichen Brüder Vincent und Anton eingeführt. Vincents Eltern hatten beim zweiten Sohn auf Nummer Sicher gesetzt. Und erst der perfekte Anton war es wert, den Namen des Vaters zu tragen. Der klassische Konflikt zwischen dem Wunschkind und dem ungeliebten Sohn. Der Widerstreit zwischen dem Laborprodukt und dem Natürlichen. Und natürlich fehlt „Gattaca“, viertens, auch eine Liebesgeschichte nicht. Denn Vincent verliebt sich in seine wunderschöne Kollegin Irene (Uma Thurman). Und es ist ein schöner Einfall, daß auch sie nicht ganz perfekt ist und ebenfalls an Herzproblemen leidet. Herzschmerz, der übrigens dafür sorgte, daß Frau Thurman von Herrn Hawke tatsächlich ein Kind erwartet.
„Gattaca“ ist das Regiedebüt des Neuseeländers Andrew Niccol, der auch das Drehbuch verfaßt hat. Niccol hat früher als Werbefilmer gearbeitet und sich irgendwann gesagt: „Ich will Filme machen, die länger als 60 Sekunden dauern.“ 112 Minuten hat er jetzt geschafft. Keine Minute zu viel. Ein ungewöhnlicher Studiofilm: stilsicher, unterhaltend, intelligent – auch wenn die Moral des Films nicht ganz neu ist. Natürlich wird Vincent am Ende seinen Weg zu den Sternen machen. Denn der Mensch bleibt eben doch der bessere Mensch.