Mister Egoyan, der Originaltitel Ihres neuen Films „Wahre Lügen“ lautet Where the Truth Lies. Darin versteckt sich ein schönes Spiel mit der Doppelbedeutung des Wortes “to lie”: liegen und lügen.
Ja, Where the Truth Lies verweist auf den Ort, wo die Wahrheit ruht. Aber es legt auch einen Platz nahe, wo etwas vorgeblich Wahres gar nicht wahr ist.
Damit lässt der Titel ein wiederkehrendes Thema anklingen: Ihre Skepsis unseren Möglichkeiten gegenüber, Ereignisse objektiv und wahrheitsgetreu nachzuerzählen. Die amerikanische Kritikerin Marcia Pally hat Sie deshalb als „poststrukturalistischen Erkenntnistheoretiker“ bezeichnet.
Um Wahrheit bestimmen zu können, muss man die Grenzen der dabei benutzten Wahrnehmungsinstrumentarien begreifen. Das betrifft die Begrenztheiten unserer Sinne und unsere psychologischen Grenzen. Es betrifft aber auch die Dinge, die aufgrund unserer vorgefassten Meinung sowie der institutionellen und familiären Leugnungssysteme abgestritten werden. Als Filmemacher bin ich von der Beschäftigung mit diesen Fragen besessen.
Enthält „Wahre Lügen“ deshalb zwei sich bisweilen widersprechende Voice-Overs? Es scheint, als wollten Sie den Zuschauer in eine Position versetzen, von wo aus er die Wahrheit nicht mehr greifen kann.
Ja, ich war schon immer interessiert an konkurrierenden Versionen der Wahrheit. Über die Frage des Voice-Over-Gebrauchs bekam ich zudem Zugang zu einer Tradition von Filmen, zu denen ich vorher keinen Zugang hatte, wie Joseph L Mankiewicz’ „A Letter to Three Wives“ oder Billy Wilders „Sunset Boulevard“. Daher war es sehr reizvoll, sich mit der Konstruktion des Filmes auseinanderzusetzen – ob der Zuschauer das nun so aufschlüsselt, wie ich es vorhatte, oder nicht.
Ein weiteres Thema Ihrer Filme könnte man unter der Überschrift „Die Bürde der Geschichte“ zusammenfassen. Manchmal sind die Figuren traumatisiert, wie in „Exotica” oder „Das süße Jenseits“; manchmal spielt die Vergangenheit auf andere Weise eine herausragende Rolle wie in „Ararat“, wo es um den Genozid der Türken an den Armeniern geht, oder jetzt in „Wahre Lügen“. Woher kommt dieses Hingezogensein zur Geschichte?
Ich habe mittlerweile erkannt, dass beinahe alles damit zu tun, dass ich Armenier bin. Ich habe das nie deutlicher begriffen als bei der Arbeit an meinem letzten Film „Ararat“. Es ist einfach seltsam, mit einer verleugneten Geschichte leben zu müssen. Kürzlich hatte ich eine Unterhaltung mit einem türkischen Künstler meiner Generation, Kutlug Ataman, den ich sehr verehre. Irgendwann kamen wir auf unsere historischen Hintergründe zu sprechen. Ich musste mir dabei immer wieder vor Augen führen, dass es für ihn keinen Grund gibt, sich für die türkische Geschichte zu entschuldigen, denn ihm wurde diese Geschichte nie gelehrt. Die Türken sind darauf absolut nicht vorbereitet. Das ist der eine Teil meines Hintergrundes. Der andere hat mit einigen sehr prägenden Erfahrungen in meiner Jugend zu tun, die mich dazu brachten, die ‚Realität’ in Frage zu stellen. Zu diesen Erfahrungen gehörte eine wichtige Beziehung mit einer jungen Frau, von der ich damals besessen war. Irgendwann fand ich heraus, dass sie von ihrem Vater missbraucht wurde. Den Vater hatte ich sehr respektiert; er war ein wichtiger Künstler in unserer Stadt. Erst später begriff ich, dass die ganz Stadt gewusst haben muss, was da geschah. Anfangs weiß man als Künstler noch nicht genau, warum man zu bestimmten Themen hingezogen ist, aber im Laufe der Zeit wird das ziemlich offensichtlich.
Insofern muss es gar nicht erstaunen, dass auf den ersten Blick so unterschiedliche Filme wie „Wahre Lügen“ und „Ararat“ von sehr ähnlichen Themen handeln.
Es ist lustig, dass Sie das sagen, denn ich habe mich bisher aus einem bestimmten Grund dagegen gewehrt. Ich habe den Film gerade deshalb gemacht, um der Dichte und Schwere der „Ararat“-Erfahrung zu entkommen. Ich musste etwas drehen, das – und ich benutze jetzt mal dieses Wort – Spaß macht: eine Stilübung. Andererseits habe ich auch eingesehen, dass es so einfach mit mir nicht läuft. Hier sitze ich nun und wir unterhalten uns in der Tat über die gleichen Themen wie bei „Ararat“. Und, um ehrlich zu sein, ich habe diese Themen ja in Rupert Holmes’ Geschichte selbst hineingepackt. Es ist pervers, eine Verbindung zwischen dem Genozid an den Armeniern und der Welt zweier Starentertainer herzustellen – insofern kann man diese Verbindung nur bis zu einem gewissen Grad aufrechterhalten. Aber sicherlich habe ich auch hier wieder die Struktur des Films als Recherche und Nachforschung angelegt.
Und ähnlich wie in „Ararat“ legen Sie auch in „Wahre Lügen“ nahe, dass Geschichte zu schreiben, immer einen Konflikt zwischen unterschiedlichen Versionen und Interpretation bedeutet.
Wir müssen akzeptieren, dass es immer eine dominierende Sichtweise auf das historisch Belegte geben wird. Diese dominierende Sichtweise wird, wie es das Klischee besagt, von den Siegern geschrieben. Wenn es jedoch genug Menschen gibt, die eine andere Version kennen, und diesen Leuten die Gabe und die Möglichkeit verliehen wird, das auszudrücken, muss auch das irgendwann anerkannt werden. Die Türkei ist heute mit einer seltsamen Situation konfrontiert: ihr Wunsch die armenische Bevölkerung der Türkei auszulöschen hat dazu geführt, dass diese Leute in verschiedene Länder verstreut wurden; einige von ihnen wurden Künstler und Autoren und überlebten, um herauszufinden, was überhaupt zu diesem Exil geführt hat. Diese Arbeiten werden von einer Gruppe von Akademikern und freien Geistern in der Türkei mit offenen Armen empfangen, während gleichzeitig radikale Nationalisten sie vehement abzuwehren versuchen. Das gilt übrigens auch für „Ararat“.
Kann man nicht dennoch in der türkischen Auseinandersetzung mit dem Genozid an den Armeniern winzige Schritte nach vorne erkennen?
Es gibt eine progressive Bewegung. Akademiker und Intellektuelle bringen das Thema zur Sprache – was sehr ermutigend ist. Andererseits gibt es das Verfahren gegen den Schriftsteller Orhan Pamuk, das absolut lächerlich ist. Darüber hinaus haben wir den Fall eines sehr bekannten armenischen Journalisten, Hrant Dink, der in Istanbul das Wochenmagazin Agos herausgibt und ebenfalls vor Gericht stand. Das alles zeugt von einer sehr, sehr ungesunden Situation. Es herrscht in der Türkei ein enormer Konflikt, der aber möglicherweise die Subtanz des türkischen Bewusstseins aufklaren könnte – ein Konflikt zwischen den Kräften, die offen und bereit sind, einen Dialog herzustellen, und denen, die für die Fortdauer des Mythos stehen.
Wie bewerten Sie den Druck, den die Europäische Union auf die Türkei ausübt bezüglich der Menschenrechtsverletzungen aber auch der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte?
Ich schätze das als fortschrittlich ein. Aber ich denke auch, dass Dinge, die nur aufgrund von externem Druck getan werden und nicht aufgrund eines Wunsches, mit etwas ins Reine zu kommen, einen gegenteiligen Effekt haben können. Wenn die Veränderungen ein zu zahlender Preis sind und kein Prozess der natürlichen Aussöhnung, wird ihr Weg durch Gefahren erschwert.