Kein schöner Land
„Hierankl“ von Hans Steinbichler (2003)
Am Ende, nachdem hinter der Maske der Lüge das böse Gesicht der Wahrheit erkennbar wurde, liegt Lene im nassen Dreck. Zusammengekauert wie ein Embryo. Traurig wie eine sterbende Greisin. Auf ihrer Reise in die Finsternis der Heimat war sie den schmerzvollen Tücken der Vergangenheit begegnet. Der Schritt zurück: ein Schritt in die falsche Richtung.
Am Anfang, bevor das Familiendrama seinen Lauf nimmt, steht Lene (Johanna Wokalek) am Münchner Hauptbahnhof und entscheidet spontan, nach Hierankl zu fahren, dem dunklen Familiengehöft in den bayerischen Bergen. Jahrelang war sie nicht zu Hause gewesen. Und das war wahrscheinlich richtig so. Denn als Lene, die Anfang dreißig ist, auf dem Bauernhof ankommt, ist alles ist wie damals, als sie die Familie verlassen hat und nach Berlin abgehauen war. Das Kinderzimmer. Die Auseinandersetzungen der Eltern. Und die Landschaft! Lange Schatten liegen über den sonnigen Feldern. Die Obstbäume blühen. Die Berge dampfen im Nebel. „Wie schön das hier ist“, sagt Lene. Ja, wie schön. Und wie trügerisch. Lene durchstreift ihre Erinnerungsorte. Dabei sieht sie das Land mit dem Blick des Fremden in der Heimat. Oft sind die Einstellungen deshalb durch springende Schnitte seziert: Alles ist vertraut ― und doch neu.
Das gilt für Lene, aber auch für den Zuschauer. Lenes Heimkehr ist eine Rückkehr in eine Landschaft, die so oft geknipst, gemalt, gefilmt wurde, so oft als Postkarte verschickt oder als billiger Softporno durch das Nachtprogramm der Privatsender gejagt wurde, dass man nicht mehr daran glauben mochte, sie jemals wieder mit unschuldigen Augen sehen zu können. Das bayerische Alpenland war verbrannte Erde. Bis zu diesem Film, der einem das Altbekannte ganz unverbraucht vor Augen führt. Auf einmal hat man wieder eine Ahnung, warum Kandinsky und Gabriele Münter in Südbayern ihre künstlerische Heimat fanden. Und plötzlich kann man sich sogar vorstellen, dass eine deutsche Landschaft im Kino irgendwann wieder vertrauter sein könnte als Los Angeles County.
Doch der Film blickt nicht nur in die Ferne der Gebirgsnatur, er wagt sich auch ganz nah heran an die physiognomische Landschaft seiner Darsteller, an die Körper, an ihre Gesichter. Einmal zeigt uns Regisseur Hans Steinbichler, der „Hierankl“ als Abschlussfilm für die Münchner Filmhochschule gedreht hat, einen verkanteten Liebesakt im Wald: eine erotische Szene, die beinahe einen Schock auslöst, weil man Lust und nacktes Fleisch im deutschen Kino gar nicht mehr erwartet. Ein anderes Mal wohnt der Film einem Abendessen mit den sechs Hauptfiguren bei. Die Sequenz, die mehrere Minuten dauert und nur aus Close-ups und Nahaufnahmen besteht, wirkt wie ein Rundgang durch eine Portraitgalerie markanter Charaktere. Dazu gehört der wuchtige Sepp Bierbichler als Familienoberhaupt Lukas, der heimlich eine Beziehung mit einer jungen Frau führt. Dazu gehört Barbara Sukowa als Gattin Rosemarie, der das Schicksal Linien ins Gesicht gezogen hat und die mit dem besten Freund ihres Sohnes eine Affäre pflegt. Und dazu gehört auch Peter Simonischek, der als unerwarteter Gast die Geister der Vergangenheit wachruft und damit die Dinge in Gang bringt. Die Figuren sprechen nicht viel in diesem Film ― dafür sind ihre Gesichter umso beredter.
Der Film beginnt an einem Freitag. Er endet am Sonntag darauf. Dieser Tag ist der sechzigste Geburtstag von Lukas. Ein Festtag. Ein Höhepunkt. Das endgültige Ende. „Wir alle fallen“, zitiert Lukas einmal aus einem Gedicht von Rilke. „Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält.“ Diesen Einen verwehrt uns dieser Film. Familienfeiern, das wissen wir seit Thomas Vinterbergs „Das Fest“, können eine grausame Sache sein. Manchmal sind sie der letzte nasse Dreck.