Herr Inárritu, wie Ihre beiden anderen Filme „Amores Perros“ und „21 Gramm“ ist auch „Babel“ nicht chronologisch erzählt. Wieso dieses Narrationsprinzip?
Wenn man mehrere Geschichten in einem Film verbinden will, muss man diese Erzählelemente auf die eine oder andere Art kombinieren. Da bleibt einem keine Wahl. Die drei Filme unterscheiden sich jedoch diametral. In „Amores Perros“ kollidieren drei Geschichten in einem einzigen Punkt: einem Autounfall. In „Babel“ dagegen gibt es vier Geschichten, die mit einander zu tun haben, die sich aber physisch nicht berühren: die Figuren bekommen einander nie zu Gesicht. Die Handlung in Mexiko spielt noch dazu einen Tag später.
Sie springen dabei vor und zurück in der Zeit – ähnlich, wenn auch nicht so exzessiv, wie in „21 Gramm“. Misstrauen Sie linearen Handlungen?
Nein, „Babel“ ist ja sonst sehr chronologisch erzählt. Das Wichtigste für mich ist, dass die Sache emotional einen Sinn ergibt. Im Gegensatz zum Theater hat das Kino die Mittel, sehr fragmentierte emotionale Erfahrungen zu ermöglichen. Es ist gut, diese Mittel auszunutzen. Aber sie sind nur eine Möglichkeit – keine Richtlinie. Filme auf meine Art zu erzählen, ist nicht besser oder schlechter. Ich habe jetzt drei Filme gemacht, die sehr interessant strukturiert sind. Aber ich könnte mir auch vorstellen, einfach einen linear vorgetragenen Monolog vor einer Kamera in einem Apartment zu filmen.
Ist die zeitliche Struktur präzise im Drehbuch vorgegeben oder wird sie erst am Schneidetisch entwickelt?
Im Drehbuch ist der Keim dafür angelegt, bei „Babel“ vielleicht zu 50 Prozent. Aber wenn man erstmal mit dem Dreh beginnt, wird man natürlich mit Problemen konfrontiert. Deshalb muss man immer flexibel bleiben.
Warum also letztlich diese verwickelte Episodenerzählung?
Diese Form schafft dramatische Spannung – und es ist die Pflicht jedes Geschichtenerzählers, dafür Wege zu finden. Es ist wie beim Witz: Bei manchen Leuten brechen sie zusammen vor Lachen; erzählt jemand anderes den gleichen Witz, finden Sie ihn schrecklich. Mir geht es darum, die Leute am Spiel teilnehmen zu lassen: Sie sollen nicht nur passive Zuschauer sein, sondern emotional involviert werden.
Wo legen Sie den Schwerpunkt als Regisseur: auf den emotionalen oder den intellektuellen Aspekten des Kinos?
Auf den emotionalen! In der Kunst geht es um Gefühle. Ich will keine smarten Filme machen – smart im rationalen Sinn. Kalte, mechanische Filme interessieren mich nicht.
Daher die melodramatischen Momente in „Babel“?
Ich sehe das weniger als melo-dramatisch denn als dramatisch. Melodramen sind sehr manichäisch, also schwarzweißmalerisch angelegt. In „Babel“ gibt es keine Guten und Bösen. Aber ich habe nichts gegen Melodramen. Wo ich herkomme, spielen sie eine wichtige Rolle. Wir Mexikaner lieben Seifenopern.
Täuscht der Eindruck, dass Sie mit dem Plot den Schmetterlingseffekt in der Chaostheorie illustrieren wollten?
Es ist eine Tatsache, dass eine Handlung an einem Ort große Wellen auf der ganzen Welt schlagen kann.
Man könnte aus der Handlung einen pessimistischen Schluss ziehen: Sobald man Grenzen in einen Kulturraum überschreitet, den man nicht versteht, verursacht man Probleme. Andersherum gesagt: kein Kontakt mit fremden Kulturen, kein Unglück.
Das ist eine sehr vereinfachte, vorurteilsbeladene Lesart. Das würde bedeuten, wir könnten überhaupt nicht mehr aus dem Bett steigen. Wir müssen damit klarkommen, dass alles was wir tun, einen Effekt hat.
Der Film kontrastiert sehr deutlich drei Stadien des Zivilisationsprozesses: das prämoderne Marokko, das Schwellenland Mexiko und das hypermoderne Japan. Dabei wirkt der Blick auf die fremden Kulturen in allen Fällen sehr authentisch. Wie gelingt so etwas?
Ich habe versucht, mich in die Lage der Figuren zu versetzen. Ich komme aus einem Dritte-Welt-Land, das extrem stereotypisiert wird. Unsere Kultur ist seit langem gefangen in Interpretationen von außen. Diese Erfahrung als Opfer von Stereotypen hat mich wachsam gemacht: Ich wollte denselben Fehler nicht wiederholen.
So kam es, dass Sie zum ersten Mal mit Laien gearbeitet haben, unter anderem aus dem marokkanischen Hinterland. Gleichzeitig gibt es mit Brad Pitt und Cate Blanchett zwei Hollywood-Stars. Das klingt nach einer kniffligen Aufgabe.
Das ist eine der größten Herausforderungen, mit der man als Regisseur konfrontiert werden kann: nicht nur mit Laienschauspielern zu drehen, sondern Laien in einer Sprache, die man selbst nicht versteht – und das dann mit einer völlig anderen Art von Schauspieler zu kombinieren. Das macht natürlich Spaß. Aber ein Film wie dieser bedeutet auch ein großes Opfer. Jeder Tag stellt dich auf die Probe, auf allen Ebenen: psychologisch, intellektuell, physisch, logistisch.