Packende Coming-of-Age-Geschichte und Abschluss einer Trilogie: Eine 15-Jährige muss klarkommen mit dem dunklen Fleck ihrer kalabrischen Familie
Beim Abendessen, bei den Familienfeiern, beim Sport: Die Kamera ist immer nah dran und mittendrin und viel in Bewegung. Von der ersten Einstellung an werden wir hineingezogen in Chiaras Welt, tief unten im armen Süditalien, dort wo die kalabrische Stiefelspitze die Insel Sizilien wegzustubsen scheint. Für die 15-jährige Chiara ist es eine warme Welt, geprägt von der Nähe der anderen Familienmitglieder. Doch dann explodiert das Auto ihres Vaters und er muss durch den Hinterausgang des Hauses verschwinden. Und mit einem Mal stehen für Chiara (mit umwerfender Wucht gespielt von Swamy Rotolo) nicht mehr das Abhängen mit ihren Freundinnen, das Trap-Musik-Hören und die kleinen Rivalitäten mit ihren Schwestern im Vordergrund – hinter dem schützenden Vorhang der Jugend tut sich eine ganz andere Welt auf.
Nach „Mediterranea“ (2015) und „A Ciambra“ (2017) ist „A Chiara“ der dritte Spielfilm des amerikanisch-italienischen Regisseurs Jonas Carpignano – und zugleich der Abschluss einer bestechenden Trilogie über das Leben in den kalabrischen Nachbargemeinden Gioia Tauro und Rosarno. Jeder Film umkreist, mit Empathie und Energie, sein eigenes Milieu: „Mediterranea“ verfolgt eine Gruppe afrikanischer Migranten, die in einem erbärmlichen Lager aus Plastikzelten lebt; „A Ciambra“ beobachtet eine Roma-Großfamilie in einer heruntergekommenen Zementsiedlung; und „A Chiara“ eröffnet Einblicke in eine italienische Familie mit Verbindungen zur ‘Ndrangheta. Doch zugleich überkreuzen sich diese quasi-ethnographischen Studien über die Folgen von Globalisierung und Entwurzelung: So kehren die Protagonisten der anderen Filme – der Immigrant Ayiva aus Burkina Faso oder der junge Roma Pio – auch in „A Chiara“ für Momente zurück. Daraus resultiert ein Realitätseffekt, der diesem fiktionalen Triptychon zugleich eine Vertrautheit gibt, die man sonst aus Fernsehserien kennt.
Filme über Armut balancieren immer auf einem schmalen Grat. Auf der einen Seite droht die Gefahr der Romantisierung, weil die Filmemacher:innen unter den Armen das richtige Leben im falschen zu finden glauben; auf der anderen Seite lauert der Abgrund einer sensationalistischen Gesellschaftskritik, die ihre Protagonist:innen buchstäblich in den Dreck schleudert und der Würde beraubt. Der 38-jährige Carpignano ist so gesehen ein geschickter Drahtseilartist, dessen Balanceschritte mit jedem Film sicherer werden. Kritiker:innen haben sein Kino in die Tradition des Neorealismus à la de Sica und Rosselini gestellt. Ähnlich wie in den großen italienischen Nachkriegsfilmen – man denke an Viscontis La terra trema (1948) und die Einwohner:innen von Aci Trezza – greift auch Carpignano auf Laiendarsteller:innen zurück, die, meist unter den tatsächlichen Namen, eine fiktionalisierte Version ihrer selbst spielen. Carpignano schaut dorthin, wo der touristische Blick nicht hinlangt und das Mainstreamkino sich verweigert. So fügt er unserer Vorstellung Italiens neue, andere Bilder hinzu.
Wie „A Ciambra“ ist auch „A Chiara“ eine Coming-of-Age-Geschichte. Am Anfang sehen wir Chiara im Fitnessstudio auf dem Laufband trainieren – ein Motiv, das später zweimal wiederkehrt, als wollte der Film uns sagen: auch wenn Chiara in eine funktionierende Familie eingebettet ist, in ihrem heimlich von der Mafia dominierten Umfeld kommt sie nicht von der Stelle. Am Ende aber wird sie, gerade 18 geworden und in einem besseren Milieu angelangt, auf einer Leichtathletikbahn in Richtung Zukunft sprinten. Chiara: schon der Name verspricht einen klaren Blick. Doch Carpignanos oft dunkler Film mündet nicht in heller Eintracht, auch darin den Vorgängerfilmen ähnlich. Für ihre offene Zukunft bezahlt Chiara einen erheblichen Preis.