Les Particules (Blaise Harrison, 2019)

Eine kalte, farblose Spätherbstlandschaft. Regen, später Schnee. Oft ist es Nacht und die Dunkelheit nur durch gelbstichige Lichtflecken erhellt. Wir befinden uns im Grenzland zwischen der Schweiz und Frankreich: in den Vorstadtausläufern von Genf, in einem internationalen Gymnasium im Pays de Gex, tief unten im Inneren des Teilchenbeschleunigers CERN oder an der Quelle des Allondon. Im Mittelpunkt stehen vier Jungen aus der Mittelschicht: P.A. (Thomas Daloz), Mérou (Salvatore Ferro), Cole (Léo Couilfort) und JB (Nicolas Marcant). Sie gehen gemeinsam auf die Abschlussprüfung zu, spielen in einer Garagen-Band, trinken Wein, kaufen Drogen, hängen auf Konzerten ab, sie lungern auf Partys herum und machen einen Ausflug in die Berge. Was man so macht mit 18 oder 19 Jahren, und der Film folgt ihnen dabei in einer Reihe lose verknüpfter Szenen. An der Peripherie der Jungen-Clique gibt es auch zwei Mädchen, Léa (Emma Josserand) und die Deutsche Roshine (Néa Lüders). Irgendwann wird sich der linkische P.A., der eigentlich Pierre-André heißt, in Roshine verlieben. Doch da ist die Handlung auch schon fast vorbei.

 „Les Particules“ ist der erste Spielfilm des 39-jährigen französisch-schweizerischen Regisseurs Blaise Harrison, der in Lausanne studiert und dann vor allem als Dokumentarfilmemacher gearbeitet hat. Ein Film über Jugendliche also, der dem vielseitigen Buch des Teenager- und High-School-Films ein weiteres Kapitel hinzufügt – ein Kapitel mit besonderem Reiz. Dabei geht es Harrison nicht um das nostalgische Schwelgen in der Vergangenheit, wie man es aus Fellinis „Amarcord“ oder George Lucas‘ „American Graffiti“ kennt. Ihn treibt auch nicht das Larry Clark’sche Interesse für den jugendlichen Drang zum Transgressiven an. Und seine Empathie mit der waidwunden Psyche der Jugendlichen – das Kennzeichen vieler Teenager-Filme von Gus van Sant oder Richard Linklater – ist eher verhalten. Auch wenn Harrison seinen Protagonisten P.A. kaum aus den Augen lässt, bleibt dessen Innenleben weitgehend unzugänglich. Überhaupt halten die Cinemascope-Bilder von Colin Lévêque die Jugendlichen häufig auf Abstand, in Totalen oder Halbtotalen. Die erwachsenen Autoritätsfiguren sind sogar fast komplett abwesend; ihnen bleibt oft nur ein Platz im nichtgezeigten Off.

Das Genre des Teenagerfilms erlaubt Blaise Harrison vielmehr das Eintauchen in einen paradoxen Kosmos: eine reale Fantasy-Welt. Dieser Kosmos ist bevölkert mit merkwürdigen Kreaturen, die einem zwar äußerlich ähneln, aber doch sehr fremd sind – bis einem betroffen, bestürzt oder beschämt einfällt, dass man selbst einmal Bewohner dieser andersartigen Welt war. Ihre verwuschelte Schlafmützigkeit mit pickligem Antlitz; ihre linkische Apathie mit überbordenden Energieschüben; Wortkargheit, Aggressionen und tief empfundenen Freundschaften – das alles liegt in weiter Ferne und ist durch diesen Film doch wieder so nah. Um ihnen die Natürlichkeit und Spontaneität nicht zu rauben, hat der Regisseur seinen jungen Darstellern nur wenige Vorgaben gemacht, ihnen buchstäblich genug Spielraum zum Ausprobieren gelassen. Man spürt das allenthalben.

Was Harrison an seinen Figuren besonders fasziniert: Ihre Erfahrung der Welt ist noch nicht von den Routinen des Alltags abgeschliffen. Kurz vor dem Übergang zum Erwachsensein bleibt ein letzter Moment für den ungeformten und unbeholfenen Blick auf die Welt. Das Stockend-Tapsige seiner Teenager gleicht einem sinnlichen Tasten und Testen, das Ähnlichkeiten mit der ästhetischen Wahrnehmung hat. So sind für P.A. die wogenden Vogelschwärme am Himmel noch ein bedrohliches Faszinosum und die technologische Erhabenheit des CERN wird für ihn zum Rätsel über den Ursprung der Welt. Dass dabei Drogen eine Rolle spielen könnten, gehört zu den Standards des Genres.

Für das abgezockt-routinierte Publikum hält Harrisons Verfahren dabei im besten Fall den ästhetischen Effekt der „Defamiliarisierung“ bereit, wie es die russischen Formalisten um Viktor Shklovsky einst nannten: Auch wir Zuschauer werden angehalten, die Welt, zumindest für die Dauer der sich bedachtsam entfaltenden 98 Minuten, noch einmal mit vergangenen Augen zu sehen. Dem arbeitet Harrison mit abrupten Szenenwechseln, kontemplativen Kamerafahrten und Hubschrauber-Einstellungen zu, die aus Kubricks „The Shining“ stammen könnten. Zeitlupen-Aufnahmen, Drogenvisionen und der dräuende Elektro-Soundtrack des belgischen Musikers Èlg injizieren dem Film zusätzlich atmosphärische Energie.

Man merkt: Hier hat jemand nicht nur ein Drehbuch bebildert, sondern sich Gedanken gemacht, was er zeigen möchte und was nicht, wie er es auf die Leinwand bringen will und warum nicht anders. Nach diesem Spielfilmdebüt ist der Regisseur Blaise Harrison auf einmal: ein Versprechen.

https://www.filmbulletin.ch/authors/julian-hanich/p2

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