Mit gnadenloser Genauigkeit erzählen die Dardenne-Brüder von den Abhängigkeiten zweier junger afrikanischer Migrant*innen in Europa.
Regie Jean-Pierre und Luc Dardenne
Buch Jean-Pierre und Luc Dardenne
Kamera Benoît Dervaux
Mit Joely Mbundu,Pablo Shils, Alban Ukaj
Tori (Pablo Shils) ist elf Jahre alt, Lokita (Joely Mbundu) sechzehn. Irgendwo auf der langen Flucht aus Afrika haben die beiden sich kennengelernt. Im belgischen Seraing geben sie sich nun als Bruder und Schwester aus, denn so könnte die illegal im Land lebende Lokita vielleicht doch noch die Legalität erlangen. Aber wir sind hier in Europa, und da ist die Liebe der Behörden oft kälter als der Tod. Wer zu Überleben sucht, besorgt sich besser Bares.
Ständig zirkulieren deshalb in diesem Film die Euro-Scheine: Für den skrupellosen Koch Betim (Alban Ukaj) in der italienischen Trattoria verticken die beiden Drogen an Party-People und süchtiges Lumpen-Prekariat; das triefend bigotte afrikanische Schlepper-Pärchen Firmin (Marc Zinga) und Justine (Nadège Oudraogo) verlangt Geld zurück; die Mutter zu Hause in Kamerun fordert am Telefon schnelle Überweisungen, um Lokitas Brüder in die Schule schicken zu können. Und als die belgischen Obrigkeiten, die hier lediglich über eine anonyme weibliche Stimme aus dem Off in Erscheinung treten, Lokita den Legalitätsstatus verweigern, muss sie obendrein 10.000 Euro für gefälschte Papiere auftreiben. Fortan wohnt sie einsam in einem Kabuff und arbeitet als moderne Sklavin in den versteckten, stickigen Hallen einer Cannabis-Farm.
Ihre Würde? Ist antastbar. Während der trickreich-agile Tori sich den Zugriffen oft entziehen kann, bleibt der von Panikattacken heimgesuchten Lokita selten ein Ausweg: von überall her zerren sie an ihr, betatschen sie, filzen sie, und demütigen sie herab, bis hin zu erzwungener Fellatio und Striptease vor der Smartphone-Kamera. Doch nicht nur hier zeigt sich, wie ernst es Jean-Pierre und Luc Dardenne damit meinen, die Würde ihrer Figuren nicht für einen sensationalistischen Effekt zu verscherbeln: Weniger sensible Regisseure hätten bei den Akten sexueller Erniedrigung verharrt—die Dardennes setzen im richtigen Moment einen Schnitt. Die Wucht ihres Films erwächst stattdessen aus einer packend erzählten – und, wie es scheint, hervorragend recherchierten – Geschichte über Verzweiflung und Abhängigkeit junger Migrant*innen in Europa.
Regisseure wie Steven Spielberg, Baz Luhrmann oder Damien Chazelle nehmen sich in ihren diesjährigen Hollywood-Prestigepoduktionen mehr als zweieinhalb Stunden Zeit – die Dardenne-Brüder verknappen Tori et Lokita auf 88 Minuten. Und diese haben es in sich. Die beiden wallonischen Filmemacher wussten schon immer, wie man Spannungsmomente inszeniert. Auch in ihrem zwölften Spielfilm gibt es Szenen, bei denen einem der Atem stockt: intellektuelles Autorenkino ohne einen Hauch von Langeweile.
Ihr Film stimmt Eloge und Elegie zugleich an. Tori et Lokita ist eine Feier der Widerständigkeit, die aus Freundschaft und Zusammenhalt erwächst. Immer wieder entziehen sich die beiden Hauptfiguren den Schlingen, die sich um sie legen. Doch der Film ist auch ein Trauergesang über die zentrifugalen Verhältnisse eines sozial erkalteten Europas, denen selbst die stärksten migrantischen Bande nicht Stand halten. Als parabelartiges Leitmotiv dient den Dardenne-Brüdern dabei Angelo Branduardis Lied «Alla feria dell’est », das Tori und Lokita in einem Lager in Sizilien beigebracht bekommen haben. Darin wird ein Tier von einem größeren Tier gefressen, das wiederum von einem noch größeren Tier verschlungen wird, das wiederum von einem noch größeren Tier… Der Mensch, so zeigen es uns die Dardenne-Brüder, ist des Flüchtlingsmenschen Wolf.