“Blindness” by Fernando Meirelles (2008)
Ein Mann steckt im Großstadtverkehr fest und wartet ungeduldig vor der roten Ampel. Als das Signal endlich auf Grün umspringt, versagen ihm seine Augen plötzlich den Dienst. Von nun lebt er in einer überbelichteten Welt in Weiß – als würde er durch ein Meer aus Milch tauchen. Und schon bald ist er nicht mehr allein mit dieser Krankheit. Die Blindheit wütet wie die Pest. Als hätte die mythische Medusa die Stadt verflucht, steckt sich an, wer einem Infizierten in die Augen blickt. Ein Betrüger. Eine Prostituierte. Ein Barkeeper. Ein Arzt. Alle vom Virus erfasst. Alle blind. Nur die Frau des Arztes scheint immun. Und das wird sich noch als Vorteil erweisen. Denn die Regierung fackelt nicht lange. Sie ruft den Ausnahmezustand aus. Die Blinden werden zusammengetrieben und in einer ehemaligen Irrenanstalt in Quarantäne gesteckt. Oder sollte man besser sagen: in einem Lager konzentriert?
„Die Stadt der Blinden“ spielt in einer multikulturellen Megalopolis, die sich wie ein Kaleidoskop aus Splittern der Städte Toronto, Sao Paolo und Montevideo zusammensetzt. Mit diesem Einfall einer zusammengestückelten Großstadt ohne Namen spitzt der Regisseur Fernando Meirelles zu, was schon in der Romanvorlage des portugiesischen Nobelpreisträgers José Saramago angelegt ist: ein Lamento über die mitmenschliche Distanz in der globalisierten Welt. Deshalb ist es bedeutsam, dass hier ausgerechnet der Blick die Krankheit überträgt. Wo Berührung und Nähe längst abhanden gekommen sind, kann sich eine Epidemie nur noch über den Distanzsinn des Sehens verbreiten. Die Krankheit des Erblindens darf man als Botschaft dabei fast wörtlich nehmen: Sollten wir weiter mit Blindheit gegenüber unserem Nächsten geschlagen sein, so rufen uns Saramago und Meirelles zu, droht uns der Verlust der Zivilisation. Wie in allen postapokalyptischen Szenarien geht es auch in „Die Stadt der Blinden“ um die Frage nach dem Fortbestand von Gemeinschaft – und die Antwort fällt düster aus. Das brüchige Menscheitskollektiv zerbröckelt und teilt sich in Herrscher und Geknechtete. Angst vor Fremden grassiert. Die moderne Menschheit wird zurückgeworfen auf den Zustand tierischer Horden. Selbst Hunde mutieren zu leichenfleddernden Hyänen.
Mit seinen Vorgängerfilmen „City of God“ (2002) und „Der ewige Gärtner“ (2005) gelang es dem Brasilianer Fernando Meirelles, den Zuschauer zu packen und heftig durchzuschütteln. Ausgerechnet seiner hochmoralischen Parabel über den Verlust von Gefühlsnähe fehlt es aber an leidenschaftlicher Überzeugungskraft. Erst in der zweiten Hälfte, wenn sich „Die Stadt der Blinden“ zu einer Mischung aus Michael Hanekes „Wolfzeit“ und Philip Zimbardos Stanford-Gefängnisexperiment verdichtet, entwickelt der Film einen größeren Drive. Woher kommt diese emotionale Distanz? Zum einen werden die namenlosen Figuren zu sehr in den Dienst der Parabel genommen und gewinnen daher nur wenige Konturen. Daran ändert auch die internationale Starbesetzung nichts, die von Julianne Moore, Mark Ruffalo, Gael García Bernal bis Danny Glover und Alice Braga reicht.
Zum anderen unterminiert Meirelles sein inhaltliches Anliegen mit dem Versuch, das Blindheitsthema auch formal ins Auge stechen zu lassen. Die entfärbte, finstere Welt des Films ist für den Blick des Zuschauers oft schwer zu durchdringen. Die Räume sind vollgestellt und zugemüllt. Fensterscheiben, Gitter und Türrahmen versperren die Sicht. Durch Spiegelungen und flackernde Monitore erhalten die Bilder eine zusätzliche Ebene, die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Dazu arbeitet Meirelles häufig mit Weißblenden und lässt die Bilder in Unschärfe verschwimmen. Das Kino ist eigentlich ein perfekter Ort, um sich Gedanken über Sehen und Nichtsehen zu machen. Von „Das Fenster zum Hof über „Blow Up und „Clockwork Orange“ bis „Blade Runner“ reicht eine ehrenwerte Tradition filmischer Reflexionen. Doch wenn sich die Form zu sehr in den Vordergrund drängt, schiebt sie den Inhalt auf Distanz. Anders gesagt: Der Film wird prätentiös und der Zuschauer infiziert sich mit einer fatalen Kino-Krankheit. Man nennt sie auch: Gleichgültigkeit.