Es ist einer dieser glutheißen römischen Sommer, in denen die Vorstadt-Reihenhaussiedlung zur trägen Hölle wird. Das Zirpen der Zikaden begleitet als schriller Dauerton den Ferienalltag. Aggressionsaerosole infizieren schleichend die Nachbarschaft. Verachtung, Neid und Wut unter den Erwachsenen werden auch dann nur schwach kaschiert, wenn die Familien zum Abendessen im Garten oder Kindergeburtstag zusammenkommen. Und Sex liegt selbst bei den Kindern in der Luft. Die Atmosphäre: eine brütende Bösartigkeit.
Favolacce – so lautet der Titel des zweiten Spielfilms der Zwillinge Elio und Damiano D’Innocenzo. Er lässt sich am besten mit „böse Geschichten“ übersetzen. Und so verfolgen die 32-jährigen Brüder auch hier, ähnlich wie in ihrem Debütfilm La Terra d’Abbastanza (2018), wie Perspektivlosigkeit und eine vergiftete Form der Männlichkeit langsam in Gewalt übergehen. Waren es dort die rohen Aggressionen des jugendlichen Prekariats, stehen hier vor allem die Männer und Kinder der Mittelschicht mit ihren sublimierteren Formen der Gewalt im Mittelpunkt.
Während die Frauen meist schweigen, als wären sie sediert, agieren die Männer am Rande des Nervenzusammenbruchs. Ihre offenbar schlecht ausgelebte Geilheit macht sich in rohen Vergewaltigungsfantasien bemerkbar; ihren fehlenden Selbstwert versuchen sie, mit Prahlerei zu überspielen. Pietro (Max Malatesta) brüstet sich der Hygiene-Produkte, die er mitentwickelt, aber ganz sauber scheint er nicht im Kopf. Bruno (Elio Germano) ist frustriert von der monatelangen Arbeitslosigkeit, deshalb lässt er seine beiden Kinder Dennis (Tommaso di Cola) und Alessia (Giulietta Rebeggiani) ihre mit Bestnoten gespickten Zeugnisse vorlesen. Und dann gibt es da noch den Kellner Amelio (Gabriel Montesi), der mit seinem Sohn Geremia (Justin Korovkin) außerhalb der Siedlung in einer Art Wohnwagen haust. Er ist ein dauergrinsender Möchtegern-Verführer, der seinen schüchternen Sohn wohl am liebsten zum Sexhengst dressieren würde.
Favolacce wurde auf der diesjährigen Berlinale für das beste Drehbuch ausgezeichnet. Dabei muss ein Missverständnis vorgelegen haben. Denn was der Film erzählt, ist in seinen Konturen weitgehend bekannt. Amerikanische Kritiker fühlten sich an Sofia Coppolas The Virgin Suicides und die fiesen Suburbia-Fantasien von Todd Solondz erinnert; deutschsprachige Kritiker zogen den Vergleich zu Ulrich Seidls Hundstage. Und vielleicht hatten sich die Brüder vorab auch nochmal Lucrezia Martels La Ciénaga angesehen. Auf der Drehbuch-Ebene sticht lediglich der eigenartige Versuch eines Verfremdungseffekts heraus. Ein Ich-Erzähler kommentiert aus der Kinderperspektive, spricht aber mit der männlichen Stimme eines Erwachsenen: „Was folgt, basiert auf einer wahren Geschichte. Die wahre Geschichte basiert auf einer Lüge. Die Lüge ist nicht sehr inspiriert“, sagt er am Anfang.
Was dem Film seinen Reiz verleiht, findet sich eher in der visuellen Form, in die er seine Geschichte verpackt. Im 2.39:1-Breitwand-Format gedreht, führt uns der Film die Vorstadt-Tristesse in ausgeblichenen Pastellfarben und grellem Licht vor Augen. Kameramann Paolo Carnera arbeitet mit Unschärfen, Zeitlupen und Lens-Flare; oft setzt er Spiegelungen ein und filmt durch Fenster und halbtransparente Vorhänge. Mit Nahaufnahmen von offenen Mündern und schlechten Zähnen oder halbrasierten Intimzonen offenbaren die D’Innocenzo-Brüder zudem einen Hang zum Grotesken. Einmal sehen wir die hochschwangere Teenagerin Vilma (Ileana D’Ambra), wie sie ihre Brust herausholt, Muttermilch auf ein Keks spritzt und es Dennis maliziös zum Verzehr anbietet. Auch in anderen Momenten, etwa wenn es um den ersten Sex von Kindern geht, wandelt der Film etwas zu selbstverliebt am Rande des Tabubruchs.
Nachhaltig in Erinnerung bleibt vor allem: die Atmosphäre. Von Anfang liegt über der Sommerhitze ein Gefühl der Beklemmung und dumpfer Anspannung. Die Kinder, die ihrer Welt meist mit ausdruckslosem Blick begegnen, suchen vergeblich nach einem Ausweg. Wäre es nicht eine bombige Idee, wenn es hier mal wieder so richtig krachte?