January 2020 in Filmbulletin
Eine kalte, farblose Spätherbstlandschaft. Regen, später Schnee. Oft ist es Nacht und die Dunkelheit nur durch gelbstichige Lichtflecken erhellt. Wir befinden uns im Grenzland zwischen der Schweiz und Frankreich: in den Vorstadtausläufern von Genf, in einem internationalen Gymnasium im Pays de Gex, tief unten im Inneren des Teilchenbeschleunigers Cern oder an der Quelle des Allondon. Im Mittelpunkt stehen vier Jungen aus der Mittelschicht: P. A., Mérou, Cole und JB. Sie gehen gemeinsam auf die Abschlussprüfung zu, spielen in einer Garagenband, trinken Wein, kaufen Drogen, hängen auf Konzerten ab, lungern auf Partys herum und machen einen Ausflug in die Berge. Was man so macht mit 18 oder 19 Jahren. Der Film folgt ihnen dabei in einer Reihe lose verknüpfter Szenen. An der Peripherie der Jungenclique gibt es zwei Mädchen, Léa und die Deutsche Roshine. Irgendwann wird sich der linkische P. A., der eigentlich Pierre-André heisst, in Roshine verlieben. Doch da ist die Handlung auch schon fast vorbei.
Les Particules ist der erste Spielfilm des 39-jährigen französisch-schweizerischen Regisseurs Blaise Harrison, der in Lausanne studiert und dann vor allem als Dokumentarfilmemacher gearbeitet hat. Ein Film über Jugendliche also, der dem vielseitigen Buch des Teenager- und Highschool-Films ein weiteres Kapitel hinzufügt – ein Kapitel mit besonderem Reiz. Dabei geht es Harrison nicht um das nostalgische Schwelgen in der Vergangenheit, wie man es aus Fellinis Amarcord oder George Lucas’ American Graffiti kennt. Ihn treibt auch nicht das Interesse Larry Clarks für den jugendlichen Drang zum Transgressiven an. Seine Empathie mit der waidwunden Psyche der Jugendlichen – das Kennzeichen vieler Teenagerfilme von Gus van Sant oder Richard Linklater – ist eher verhalten. Auch wenn Harrison seinen Protagonisten P. A. kaum aus den Augen lässt, bleibt dessen Innenleben weitgehend unzugänglich. Überhaupt halten die Cinemascopebilder von Colin Lévêque die Jugendlichen häufig auf Abstand, in Totalen oder Halbtotalen. Die erwachsenen Autoritätsfiguren sind sogar fast komplett abwesend; ihnen bleibt oft nur ein Platz im Off des Bildes.
Das Genre des Teenagerfilms erlaubt Blaise Harrison das Eintauchen in einen paradoxen Kosmos: eine reale Fantasywelt. Dieser Kosmos ist bevölkert mit merkwürdigen Kreaturen, die uns zwar äusserlich ähneln, aber doch sehr fremd sind – bis einem betroffen, bestürzt oder beschämt einfällt, dass man selbst einmal Bewohner_in dieser andersartigen Welt war. Ihre verwuschelte Schlafmützigkeit mit pickligem Antlitz, ihre linkische Apathie mit überbordenden Energieschüben, Wortkargheit, Aggressionen und tief empfundene Freundschaften: Das alles liegt in weiter Ferne und ist durch diesen Film doch wieder so nah. Um ihnen die Natürlichkeit und Spontaneität nicht zu rauben, hat der Regisseur seinen jungen Darsteller_innen nur wenige Vorgaben gemacht, ihnen buchstäblich genug Spielraum zum Ausprobieren gelassen. Man spürt das allenthalben.
Was Harrison an seinen Figuren besonders fasziniert: Ihre Erfahrung der Welt ist noch nicht von den Routinen des Alltags abgeschliffen. Kurz vor dem Übergang zum Erwachsensein bleibt eine letzte Gelegenheit für den ungeformten und unbeholfenen Blick auf die Welt. Das Stockend-Tapsige seiner Teenager gleicht einem sinnlichen Tasten und Testen, das Ähnlichkeiten mit der ästhetischen Wahrnehmung hat. So sind für P. A. die wogenden Vogelschwärme am Himmel noch ein bedrohliches Faszinosum, und die technologische Erhabenheit des Cern wird zum Rätsel über den Ursprung der Welt. Dass dabei Drogen eine Rolle spielen könnten, gehört zu den Standards des Genres.
Für das abgezockt-routinierte Publikum hält Harrisons Verfahren dabei im besten Fall den ästhetischen Effekt der «Defamiliarisierung» bereit, wie es die russischen Formalisten um Wiktor Schklowski einst nannten: Auch wir Zuschauer_innen werden angehalten, die Welt, zumindest für die Dauer der sich bedachtsam entfaltenden 98 Minuten, noch einmal mit vergangenen Augen zu sehen. Dem arbeitet Harrison mit abrupten Szenenwechseln, kontemplativen Kamerafahrten und Hubschraubereinstellungen zu, die aus Kubricks The Shining stammen könnten. Zeitlupenaufnahmen, Drogenvisionen und der dräuende Elektrosoundtrack des belgischen Musikers Èlg injizieren dem Film zusätzlich atmosphärische Energie. Man merkt: Hier hat jemand nicht nur ein Drehbuch bebildert, sondern sich Gedanken gemacht, was er zeigen möchte und was nicht, wie er es auf die Leinwand bringen will und warum nicht anders. Nach diesem Spielfilmdebüt ist Blaise Harrison auf einmal: ein Versprechen.