Mr. Leigh, Sie haben einmal gesagt, das Schwierigste am Filmemachen sei die Wahl des Titels. Stimmt das noch?
Ich weiß nicht, ob es tatsächlich die schwierigste Entscheidung ist. Aber auf jeden Fall ist der Titel eine sehr wichtige Sache, da man damit den Film definiert. Ich denke mir deshalb den Titel immer erst am Schluss aus, wenn der Film bereits abgedreht ist.
Fiel Ihnen die Entscheidung auch dieses Mal schwer?
Ja, extrem! „Another Year“ behandelt ja so viele Dinge. Ein Problem von Titeln ist, dass sie oft zu konkret sind. Man hätte den Film nach den beiden zentralen Figuren benennen können: „Tom & Gerri“. Aber das wäre völlig verkürzend (abgesehen davon, dass der Titel „Tom & Gerri“, zumindest beim Hören, auch noch andere Missverständnisse ausgelöst hätte…). Ich dachte zunächst daran, den Film einfach nur „A Year“ zu nennen. Aber auch das wäre unpassend gewesen, denn der Film handelt von Zyklen und der Unvermeidbarkeit des Vergehens der Jahre.
Der Titel erhält durch den Zusatz „Another“ eine interessante Mehrdeutigkeit.
In der Tat. Man kann ihn negativ oder positiv verstehen: entweder „Oh Gott, schon wieder ein neues Jahr!“ oder „Oh toll, endlich ein neues Jahr!“ Mehrdeutigkeiten sind gut, denn Filme sollen vom Publikum interpretiert werden können.
Es besteht also eine Spannung zwischen Optimismus und Pessimismus, die auch Ihre Haltung gegenüber den Figuren betrifft: mal liebevoll, mal kritisch.
Ja, aber mit dieser Analyse sagen Sie doch letztlich nur, dass die Figuren lebensecht sind. Selbst die Guten im Film werfen Fragen auf, weil sie nicht durchweg sympathisch erscheinen. Meine Aufgabe ist es, Figuren auf die Leinwand zu bringen, die menschlich und fehlbar, widersprüchlich und komplex sind. Weder sollen sie als zweidimensionale Charaktere dastehen, die nur einem Plot dienen; noch sollen sie als Chiffren rüberkommen, die der Agenda des Regisseurs zu Diensten stehen.
Diese Vielschichtigkeit fällt besonders bei Tom und Gerri auf. Zunächst scheinen sie offen und sympathisch; bei genauerem Hinsehen gilt das keineswegs immer, oder?
Die Frage ist doch, ob sie dabei falsch und heuchlerisch wirken – oder ob sie von bestimmten Situationen herausgefordert werden und dabei auf spezifische Weise reagieren. Ich würde mich eher letzterer Interpretation anschließen. Ich halte sie für durchweg aufrichtig und ehrlich. Das moralische Dilemma, mit dem sie konfrontiert sind, lautet: Was tun, wenn man freigiebig ist und den Leuten die Türen öffnet – und diese Leute dann überziehen und sich schlecht benehmen?
Andererseits zeigen Sie dem Zuschauer die genervten oder spöttischen Blicke, die Tom und Gerri gelegentlich hinter dem Rücken anderer austauschen.
Sie verwechseln hier spöttisches Benehmen hinter dem Rücken anderer mit reflektierender Ironie. Das ist kein hinterrückses Verhalten, sondern die Einsicht, dass das Leben absurd sein kein.
Neben den verstohlenen Blicken setzen Sie häufig auf Umarmungen als wichtiges nicht-verbales Ausdrucksmittel Ihrer Figuren.
Umarmungen sind ein Teil des alltäglichen menschlichen Umgangs. Wenn Tom seinen Freund Ken oder seinen Bruder Ronnie in den Arm nimmt, sind das Momente von Zuneigung und Wärme, die auch mit meinem Bewusstsein zu tun haben, jetzt Ende 60 zu sein. Ihre Frage unterstellt, dass ich sie mir als gewollt künstlerisches Leitmotiv ausgedacht habe. Die Umarmungen so zu dekodieren, mag Ihr gutes Recht sein. Aber damit werden Sie der Art nicht gerecht, wie ich Filme mache.
Anders ist es vermutlich mit dem Motiv des Gartenanbaus, das sehr bewusst eingesetzt wirkt?
Sicher. Der Film handelt vom Leben, vom Wachsen, vom Weiterentwickeln, von der zyklischen Natur der Dinge. Der Titel „Another Year“ bedeutet: Die Zeit vergeht, die Jahreszeiten ziehen vorüber. Im Englischen gibt es den Begriff „husbandry“, der das Bewirtschaften des Bodens bezeichnet, aber auch das Wort für Ehemann enthält. Dieses Wortspiel trifft sehr gut auf Tom zu. Die unglückliche Mary hingegen ist zu selbstbezogen, um sich um ihre Pflanzen zu kümmern.
Mary, die dritte Hauptfigur, steht für einen Frauentyp, der in Ihren Filmen häufig wiederkehrt.
Ja, meine Filme sind voll von neurotischen Frauen. Warum? Vielleicht wecken bei mir Erinnerungen an Frauen mittleren Alters, als ich ein Kind war. Aber wiederum: Sie sind kein Leitmotiv. Denken Sie an Gerri, „Vera Drake“ oder Poppy aus „Happy-Go-Lucky“ – diese Frauen sind alles andere als neurotisch.
Tom sagt an einer Stelle, je älter man werde, desto stärker nähme das Interesse an Geschichte zu. Diese einfache Bemerkung enthält eine profunde Einsicht in unsere Vergänglichkeit.
Ich bin zwar keiner, der erst kürzlich zur Geschichte konvertiert ist, aber auch ich habe begonnen, die Zeit auf andere Art zu messen. Mir ist neulich aufgefallen, dass ich vor 50 Jahren die Schule beendet habe und nach London gezogen bin. Das war im Jahr 1960. Gingen wir den gleichen Zeitraum zurück, wären wir im Jahr 1910. Und einen weiteren Sprung zurück würden wir das Jahr 1860 schreiben. Wow!
Ihr verändertes Zeitbewusstsein macht sich auch an anderer Stelle bemerkbar: Sie springen von der Generation 30+ in „Happy-Go-Lucky“ zur Generation 60+ in „Another Year“.
Ja, es ist ein Film über meine Generation. Das macht sich aber beim Drehen gar nicht unbedingt bemerkbar. Ich verbringe viel Zeit mit jüngeren Leuten. Meine Söhne sind Anfang 30, ich unterrichte Studenten. Ich bin weiter Teil der Welt.