„Mein Ein, mein Alles“ (Mon Roi) von Maïwenn
Außer Atem: In ihrem packend-verstörenden Ehedrama „Mein Ein, mein Alles“ lässt die französische Regisseurin Maïwenn den umwerfenden Vincent Cassel und die großartige Emmanelle Bercot aufeinander los.
Plötzlich ist er da: der Fremde mit dem markerschütternden Blick und dem kaum zu widerstehenden Lächeln. Giorgio (Vincent Cassel) heißt er: ein Mann mit Fünftagebart und attraktivem Wuschelkopf, der vor Charme fast zu platzen droht. Ein charismatischer Menschenseelenverschlinger, ein Energiespringbrunnen, ein dauerspeiender Emotionsvulkan. Die Anwältin Tony (Emanuelle Bercot) – blond, gutaussehend, ein wenig linkisch – hat ihn in der Disco kennengelernt. Und von da an wird sie ihn nicht mehr los, und will es auch gar nicht, denn Giorgio ist einfach hinreißend. Erstes Date, betörender Sex, und schon sagt er: „Ich liebe Dich.“ Essen in schönen Restaurants, Zusammenleben in Giorgios schmucker Wohnung. Hochzeit, Schwangerschaft, Kind. Alles geht ganz schnell.
Geschickt schlingt Giorgio schwere Ketten um Tony und sich, um sich dann, wie der legendäre Entfesselungskünstler Houdini, selbst langsam und behände zu entwinden. Wie Tony fühlt er sich zusehends eingeengt in der Beziehung, doch nur ihm gelingt es, sich aus den Zwängen zu befreien. Tony hingegen sieht man nicht nur einmal in diesem Film schnappatmend nach Luft ringen. Auch ihr skeptischer Bruder Solal (Louis Garrel) hat nichts mehr zu sagen. Giorgio beherrscht bald ihr Leben, er regiert über ihre Gefühle, er ist ihr König („Mon Roi“ heißt der Film im französischen Original).
Schon in ihrem vorherigen Film „Polisse“ (2011) hatte die Regisseurin Maïwenn einen Hang zu forcierten Emotionen, ja zu regelrechten Gefühlsfeuerwerken erkennen lassen. Eifersucht, ekstatische Freude, Niedertracht und ein beständiger Kampf um Anerkennung: Das ist auch in „Mein Ein, mein Alles“ die Gemengelage. Tony will das wild ausschlagende Elektrokardiogramm ihrer Beziehung in eine flache Linie der Vernunft verwandeln – Giorgio erkennt darin lediglich ein erkaltetes Herz und somit: den Tod.
Am Anfang von „Mein Ein, mein Alles“ sieht man, wie sich Tony in den Alpen eine Piste hinabstürzt. Eine Selbstzerstörungsmission in schwarzem Skianzug und mit schwarzer Sonnenbrille. Wie ihre Beziehung zu Giorgio: eine Schussfahrt in die Tiefe. Bei einem Sturz reißt sie sich das Kreuzband. In einer Reha-Klinik an der südlichen Atlantikküste muss sie wieder das Gleichgewicht finden und aufrecht gehen lernen. Wie sie dort langsam mit einer Gruppe ebenfalls versehrter Jugendlicher das Lachen wiederentdeckt, das gehört zu den schönen Kontrastmomenten dieses Films. Denn die 39-jährige Maïwenn, die zusammen mit Etienne Comar auch das Drehbuch verfasst hat, schneidet in ihrem vierten Spielfilm resolut hin und her: zwischen der sonnigen Gegenwart in der Klinik und den sich langsam verdüsternden Rückblenden in die Zeit mit Giorgio. Rund zehn Jahre zwischen dem Jetzt und dem Damals umfasst der Film.
Die Vergangenheit: Das sind Ausbrüche, Versöhnungen, Anfälle und Wiedergutmachungen. Hysterie und Manie. Lachen, Schreien, Tränen, Rotz. Emmanuelle Bercot hat für ihre tour de force, bei der sie mit schamfreier Offenheit ihren Körper zur Schau stellt, im vergangenen Jahr den Darstellerinnen-Preis beim Filmfestival in Cannes gewonnen. Und auch für den agilen Vincent Cassel ist dieser Giorgio eine Paraderolle. „Mein Ein, mein Alles“ ist faszinierend inszeniertes Schauspielerkino. Aber bisweilen sind diese 124 Minuten kaum auszuhalten in ihrer Intensität.
Giorgio magnetisiert die Aufmerksamkeit seiner Umgebung, und wenn er sie nicht bekommt, reagiert er ungehalten. Er sucht sich seine Freunde in der Kunst- und Mode-Welt, umgibt sich mit der Pariser jeunesse dorée. Schöne junge Menschen, in deren Gegenwart sich Tony wie graues Mittelmaß vorkommt. Giorgio ist ein Narziss, ein liebender Egomane, ein verspieltes Kind. Früher hatte er Beziehungen allein mit Models, deren Glanz auf ihn abfallen sollte. An einer von ihnen, der spindeldürren Agnès (Chrystele Saint-Louis Augustin), hängt er noch immer und kann nicht los von ihr. Man möchte Tony zurufen, sie solle Giorgio doch endlich zum Teufel schicken, und weiß doch, wie schwer das sein kann: von einem Menschen zu lassen, den man noch liebt. Und davon handelt dieser Film ja im Kern: dass die Liebe ein beklemmender Kerker mit offener Tür sein kann, durch die man sich nicht zu fliehen traut. Abhängigkeit zieht sich deshalb wie ein Leitmotiv durch den Film. Drogen, Medikamente, vor allem aber die Sucht nach Menschen, denen man sich verpflichtet fühlt.