Maxima Moralia: Christof Decker untersucht das soziale Melodram und entdeckt „Hollywoods kritischen Blick“

Christof Decker untersucht das soziale Melodram und entdeckt „Hollywoods kritischen Blick“

15.01.2004

Melodrama? Filme für Heulsusen und verweiblichte Schwächlinge! Eskapistische und gefühlsexzessive Massenware! Unter Taschentuchbergen begraben, von Kitschmusik ertränkt. Weder aufklärerisch noch ästhetisch innovativ. Weder subtil noch verfremdend. Überdeutlich, (klein-)bürgerlich, anti-intellektualistisch. Kurz: die pure Emotionspornographie ? So lauteten die Vorwürfe. Vorgetragen aus dem Blickwinkel der ästhetischen Avantgarde. Weitverbreitet durch die Kritiker der Massenkultur. Das Melodrama hatte lange Zeit einen Ruf, der mit „miserabel“ noch schmeichelhaft umschrieben ist.

Diese Einschätzung wurde in den letzten Jahrzehnten jedoch gründlich auf den Kopf gestellt. Das ging soweit, dass Filmwissenschaftlerinnen wie Christine Gledhill (1987) und Linda Williams (1998) das Melodrama zu einem entscheidenden Darstellungsmodus der amerikanischen Kultur erklärten. In seiner klugen Studie Hollywoods kritischer Blick greift der Amerikanist Christof Decker diese Vorarbeiten auf, um dann auf über 500 Seiten zu einem überzeugenden Plädoyer für die Populärkultur, das Hollywood-Kino und insbesondere das soziale Melodrama anzusetzen. Das zeitigt die Wirkung, dass sich sein Text manchmal wie eine Apologie des amerikanischen Kinos liest – was andererseits eine Abwechslung darstellt bei all den ideologiekritischen Texten, die man aus den Race-Class &Gender-Debatten kennt.

Decker definiert das soziale Melodram als Darstellungsform, die moralische Anliegen mit tagesaktuellen Gesellschaftsbezügen verknüpft und dabei auf die Macht der Gefühle setzt – Mitleid, Sympathie, Schock … Für ihn stellen Filme emotionalisierende Wortmeldungen in gesellschaftlichen Debatten dar, die im besten Fall sogar als Handlungsanleitungen dienen können. Mit anderen Worten: Das soziale Melodram liefert bewegende „bewegte Bilder“ zu Themen, die das Land bewegen. Meistens stehen Fragen der Gerechtigkeit im Mittelpunkt. Das amerikanische Kino wird dabei zum „Motor demokratischer Anliegen“, so Decker – eine Leistung Hollywoods, die der Autor zu Recht als unterschätzt ansieht (pace Adorno!).

Minutiös verfolgt Decker, wie sich die Gerechtigkeitsvorstellungen in der amerikanischen Gesellschaft langsam verschoben haben. Lange Zeit stand die soziale Gleichheit im Mittelpunkt. Ökonomische Ausbeutung und gesellschaftliche Hierarchien sollten abgebaut werden. Typischer Ausdruck dafür sind die radikalen Montagen sozialer Ungleichheit in den Filmen von D. W. Griffith und die Aufstiegsfantasien von Gangsterfiguren wie Scarface. Ab den späten vierziger Jahren wird dagegen die Anerkennung kultureller Differenz entscheidend, die sich gegen eine Nichtbeachtung oder gar Abwertung von ethnischen Unterschieden wehrt. Ein Beispiel dafür ist Elia Kazans Film Pinky, in dem es, ähnlich wie derzeit in den Kinos in Der menschliche Makel, um die Identitätskonfusion von Schwarzen geht. Dazwischen liegt ein langwieriger Prozess, in dem sich Hollywoods Amerikabild im Trippelschritt verändert: Die Dominanz des angelsächsisch-protestantischen Modells wird allmählich durch ein multiethnisches Bild verdrängt.

Bei seinen Blicken durch den analytischen Kamerasucher entscheidet sich Decker dabei für einen zunehmend engeren Fokus. Er beginnt mit einer Panoramaeinstellung des 19. Jahrhunderts. Jeweils ein Kapitel sind der amerikanischen Reformperiode vor dem Bürgerkrieg und der progressive era um die Jahrhundertwende gewidmet. Dabei geht er auf sentimentale Romane wie Onkel Toms Hütteund die Spektakel des Bühnenmelodrams ein – die Wurzeln des Filmmelodrams. Dann verengt er die Einstellungsgröße auf eine Halbtotale und untersucht in zwei Kapiteln die sozialen Melodramen der zehner und zwanziger Jahre. In einem dritten Schritt schneidet er auf die Großaufnahme und schafft Raum für fünf Kapitel über die dreißiger Jahre. Darin geraten Filme von Fritz Lang, John Ford und Frank Capra in den Fokus. Schließlich überblendet er in die Halbtotale zurück und widmet den vierziger Jahren ein Abschlusskapitel. Die Gewichtungen sind also keineswegs gleich verteilt. Der Zeitraum „1840 – 1950“, wie er im Titel des Buches angekündigt steht, muss daher als milde Form des Etikettenschwindels gerügt werden. Und die Ankündigung eine medienübergreifende Analyse vorzulegen, darf man als leichte Übertreibung ansehen – der Film bekommt vier Fünftel des Buches zugesprochen.

Methodisch interessante ist das Buch dennoch, weil es zwei Untersuchungsstränge ineinander zu flechten versucht. Erstens: wie das soziale Melodrama gesellschaftliche Probleme aufgreift und debattiert. Zweitens: wie die Institution Kino sich dadurch gesellschaftliche Legitimität zu verschaffen hofft und dabei immer in einem Netz unterschiedlicher Ansichten gefangen ist – von den ökonomischen Interessen der Produzenten, den künstlerischen Anliegen der Filmemacher, den politischen Einflussnahmen und den Zensurgelüsten der moralischen Instanzen. Die sozialen Melodramen sind Ausdrücke dieses Hin- und Hergerissenwerdens: Motoren, die mal stotternd, mal auf Hochtouren die demokratischen Gerechtigkeitsdebatten vorwärtsbringen.


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