In: Frankfurter Rundschau. 5. Oktober 2002.
Als die Bilder laufen lernten
Thomas Elsaesser untersucht die fremde Welt des frühen Kinos
Thomas Elsaesser: Filmgeschichte und frühes Kino. Archäologie eines Medienwandels. Edition Text und Kritik. München, 2002. 346 Seiten.
Thomas Elsaesser und Michael Wedel (Hg.): Kino der Kaiserzeit. Zwischen Tradition und Moderne. Edition Text und Kritik. München, 2002. 429 Seiten mit zahlreichen Abbildungen.
Ein Jahrmarktszelt. Die stickige Luft erinnert an fiese Spelunken. Im Hintergrund rattert ein Projektor, der mit Mühe seinen Bildern Bahn durch den Rauch zu brechen versucht. Neben der Leinwand steht der Erzähler. Seine Stimme ist schwülstig. Seine Arme holen weit aus. Er verklärt ein Kurzmelodram und spöttelt über die flirrenden Bilder mit dem Kaiser hoch zu Ross. Flott wechseln die Nummern. Humoresken, Naturaufnahmen, Pantomimen und Bilder vom Boxen. Nichts dauert länger als drei Minuten. Die verschwitzten Arbeiter grölen im Dunkeln. Die Sekretärinnen kichern. Und ein Bengel lässt seine untugendhaften Hände unter dem Rock eines Mädels verschwinden…
Das ist die Welt des Kintopps. Eine fremde Welt. Eine anderen Epoche. Das frühe Kino ist zugedeckt vom Staub der Geschichte und angefressen vom Zahn der Zeit. Nur noch ein Bruchteil der Filme existiert überhaupt noch. Scherben, Fragmente, verlaufende Spuren im Sand. Doch seit im Jahre 1978 eine Gruppe von Wissenschaftlern zu einer mittlerweile legendären Konferenz in Brighton zusammentraf; seitdem in Pordenone jährlich die „Giornate del cinema muto“ ausgerufen werden; seitdem sich Akribiker wie Charles Musser, Tom Gunning oder Noël Burch. an die Arbeit gemacht haben ─ seit alldem wird das frühe Kino als eines der fruchtbarsten Felder der Filmwissenschaft beackert. Kintopp-Klamauk? Kalauer aus der Klamottenkisten? Von wegen. Die verächtliche Bezeichnung „primitives Kino“ wurde längst abgeschafft. Den alten Kanonverteidigern wurde das mitleidige Lächeln aus dem Gesicht getrieben.
Ausgerüstet mit Videorekordern, restaurierten Kopien und einem Empirie-unterfütterten Willen zum Wissen räumten die Forscher der sogenannten „New Film History“ auf mit den Mythen und Fehlschlüssen der alten Filmhistoriker: den teleologischen Abrissen, der Suche nach vermeintlichen Ursprüngen und Erfindungen, der Filmgeschichte der großen Meisterwerke und auteurs. Sie entdeckten einen eigenen Darstellungsmodus des frühen Kinos, der auf Zeigen und Performanz beruht und den Zuschauerraum viel stärker verwickelt: das „Kino der Attraktionen“. Das illusionistische Erzählen stand dabei noch abseits im Hintergrund. Die neuen Filmhistoriker sahen sich nicht nur Filme an. Im Gegenteil: Oft begaben sie sich auf Erkundung nach der Zusammensetzung des Publikums, der Form des Filmverleihs oder der Art der Vorführung.
Zu ihnen gehört auch Thomas Elsaesser. Elsaesser, einer der profiliertesten Filmwissenschaftler Europas, ist jemand, der sich immer an vorderster Front in Rauferein um das Kino stürzt: Neuer Deutscher Film, frühes Kino, Hollywood-Melodrama und das Kino der Weimarer Republik. Zuletzt hat er mit klassischem und modernem Theoriebesteck die amerikanischen Blockbuster auseinander gefieselt („Studying Contemporary American Film“). Muss man noch dazusagen, dass so einer nicht in Deutschland lehrt? Wie viele der wichtigen deutschen Filmwissenschaftler ─ Anton Kaes in Berkeley, Eric Rentschler in Harvard oder Miriam Hansen in Chicago ─ ist Elsaesser seit Jahren im Ausland beschäftigt. Zuerst in England, jetzt in Amsterdam. Ein Indiz dafür, dass die Filmwissenschaft an den deutschen Universitäten immer noch wie eine schlecht gegossene Topfpflanze in der Ecke steht.
Elsaesser hat schon 1990 mit dem Buch „Early Cinema“ eine Bestandsaufnahme der wichtigsten Arbeiten zum Thema herausgegeben. Zusammen mit seinem jungen Kollegen Michael Wedel hat er jetzt noch einmal 21 Aufsätze zusammengeschnürt. Diese Arbeiten handeln nun ausschließlich vom deutschen „Kino der Kaiserzeit“ ─ der Zeit vor „Caligari“, vor dem Weimarer Kino, vor Murnau, Lang und Pabst. Die Beiträge kommen von Forschern wie Kristin Thompson, Barry Salt und Heide Schlüpmann, der vielleicht besten Kennerin des frühen deutschen Films. Untersucht werden Genres, Stars und stilistische Eigenschaften. Und auch hier werden überkommene Mythen zertrümmert. Die Vorstellungen von einer nationalen Identität des frühen deutschen Kinos; von einem reinen Arbeiterklassen-Publikum; von einem stummen Stummfilm-Kino; vom Ersten Weltkrieg als totalem Bruch in der Filmindustrie; und von einem Kino, das durch das Theater geprägt wurde, wo doch Varieté und Operette viel entscheidender waren.
Gleichzeitig hat Elsaesser einen silberschimmernden Band hinterhergereicht, der wie ein Gang durchs Wunderland wirkt: Überall gibt es etwas neues zu entdecken. Elsaesser nennt das Buch selbst einen „historisch-kritischen Kommentar und methodologischen Begleittext“. Eine Untertreibung. Nach einer immensen Lektüre-Arbeit steigt Elsaesser hier auf ein Plateau und überblickt das weite Feld des frühen Kinos. Er hält Ausschau nach den Gegenden, die bearbeitet wurden und zeigt auf viel unerforschtes Brachland. Es synthetisiert und reflektiert die Debatten. Er pointiert und provoziert. Und während sein Blick über die Landschaft zertrümmerter Filmgeschichtsmythen schweift und er die archäologischen Entdeckungen der Neuen Filmgeschichte inspiziert, bemerkt er auf einmal, dass die entscheidenden Fragen zwar uralt sind, aber doch wieder ganz neu gestellt werden müssen: Ab wann kann man überhaupt von Kino sprechen? Was soll Filmgeschichte überhaupt? Warum sieht sich die Filmwissenschaft Filme vorwiegend als Erzählungen und Artefakte an, wo doch bewegte Bilder seit jeher (und heute zumal) mit ganz anderen Aufgaben beschäftigt sind?
Manche Fragen wirken wie die eines umgekehrten Ikonoklasten, der von den Kinobildern wegstürmt und das Feld radikal erweitern will: von monodisziplinären Blick des Filmwissenschaftlers zu einer allgemeinen Geschichte des Audivisuellen. „Nicht zuletzt dank des wieder auflebenden Interesses am frühen Film ist vielen neueren filmwissenschaftlichen Arbeiten nämlich die Überzeugung gemeinsam, dass Filmgeschichte mehr ist als die Geschichte der Filme“, schreibt Elsaesser. Aber man soll sich nicht täuschen lassen: Elsaesser ist viel zu vernarrt in Filme, um sie völlig außen vor zu lassen. Dazu braucht man nur seine Kapitel über Griffith, Franz Hofer und den frühen Fritz Lang durchzulesen.
Die deutsche Forschung zum frühen Kino hinkt vor allem der amerikanischen weit hinterher. Deshalb kommen die beiden Bände keine Sekunde zu früh. Aber es ist längst nicht zu spät, sich die fast 800 Seiten zur Brust zu nehmen.