„Bowling for Columbine“ (2002) von Michael Moore
Kann ein Film aktueller sein? Die beiden Sniper von Washington waren kaum gefasst, da rastete in Arizona ein Student aus und riss drei seiner Professoren mit in den Tod. Drei Wochen ist das her. Da lief „Bowling for Columbine“ gerade in den amerikanischen Kinos.
Der moderne Schelm Michael Moore bricht in seinem neuen Film auf zu einer Suche nach den Ursprüngen dieser Gewalt. Es ist ein aberwitziger Trip: eine Reise durch sein Land und eine Reise durch das gewalttätige Unterbewusstsein Amerikas. An einem Höhepunkt des Films vergleicht er die jährlichen Toten durch Schusswaffen verschiedener Länder: Deutschland 381, Kanada 165, Großbritannien 68, Japan 39, USA ─ 11127. Gewalt, heißt es in den USA, sei so amerikanisch wie apple-pie.
Michael Moore ist eine Kreuzung aus Noam Chomsky, Ralph Nader und Homer Simpson. In „Roger and Me“ (1989) und „The Big One“ (1997) griff er Corporate America an. Er agitierte gegen Massenentlassungen, Fabrikschließungen und Firmenverschlankungen. Er war der Kleine Mann, der sich mit Big Business anlegte. Mit seinem dritten Dokumentarfilm wendet er sich einem neuen Thema zu. Doch seinem Stil ist er treu geblieben. Mit kugelrundem Bauch, dünngesätem Vollbart, Baseball-Kappe und Schlabberjeans schlurft er durch seine Filme. Wer ihn nicht kennt, könnte ihn unterschätzten. Mit Pokerface hört er seinen Interviewpartnern zu. Mit sonorer Stimme trägt er seine sarkastischen oder pathetischen Sprüche vor. Und gäbe er nicht gekonnt den Mann aus dem Volk, man würde ihm Überheblichkeit und Selbstinszenierung vorwerfen. Doch all das gehört zu seiner Strategie. Und die überzeugt.
Im ersten Teil von „Bowling for Columbine“ bebildert er die Nähe von Wahnwitz und Waffengewalt. Moore interviewt James Nichols, dessen Bruder Terry beim Attentat in Oklahoma City beteiligt war und der die sprichwörtliche Knarre unter dem Kopfkissen versteckt. Er zeigt einen Jungen, der ein erfolgreiches Mitglied in seinem Schützenverein ist ─ der Junge ist blind. Er lässt sich bei einem Friseur die Haare schneiden, in dessen Laden Munition verkauft wird. Er eröffnet ein Bankkonto und bekommt ein Gewehr als Prämie in die Hand gedrückt. Moore kitzelt ein Crescendo der Absurdität und Brutalität hervor. Als Höhepunkt setzt er unscharfe Videoaufnahmen vom Massaker an der Columbine High School in Littleton. Es sind niederschmetternde Bilder voll Panik und Bestialität. Sie dienen Moore als Sinnbilder einer wildgewordene Gesellschaft: rücksichtslose Mörder, sinnlose Tote, falsche Sündenböcke.
Doch wer ist wirklich schuld? Die Rüstungsfirma Lockheed Martin und das US-Militär mit ihrer Präsenz in der Umgebung von Littleton? Die unnachgiebigen Waffenlobbyisten von der National Rifle Association (NRA), die nur wenige Tage nach den Morden zu einer Waffenveranstaltung erschienen? Die gnadenlose Leistungsgesellschaft, wie der „South Park“-Erfinder und ehemalige Columbine-Schüler Matt Stone meint? Oder doch bloß Bowling? Immerhin gingen die Columbine-Mörder zum Kegeln, bevor sie zum Massaker schritten. Dieser Sarkasmus, mit dem Moore Ratlosigkeit andeutet, ist unangebracht.
Denn im zweiten Teil holt Moore zur eigentlichen These aus. Und die ist bestechend. Nicht die blutige Geschichte Amerikas sei schuld, wie oft behauptet wird. Die britische und die deutsche Geschichte hätten mit dem Empire und dem „Dritten Reich“ viel brutalere Kapitel. Für Moore, der sich als lebenslanges NRA-Mitglied zu erkennen gibt, sind auch die über 200 Millionen Handfeuerwaffen im Umlauf nicht das Problem. Um diese Behauptung zu stützen, reist Moore nach Kanada und zieht das Land als utopisches Gegenbild heran. Jenseits der Grenze ist die Anzahl der Waffen pro Kopf beinahe ebenso hoch. Doch die Todesrate ist deutlich geringer. Warum? In Kanada herrscht keine Kultur der Angst.
Moore greift für sein Hauptargument auf das Buch „The Culture of Fear“ (1999) zurück. Der Soziologe Barry Glassner, der auch im Film zu Wort kommt, behauptet in seiner Studie, dass in den USA bestimmte Gruppen ─ Journalisten, Politiker und Anwälte ─ von Ängsten in der Bevölkerung profitieren und sie daher schüren. Wütende Killerbienen aus Afrika, die über Südamerika in die USA vordringen. Tödliche Rasierklingen, die in Halloween-Äpfeln versteckt sind. Gefährliche Schlankheitspillen, gefährliche Rolltreppen, gefährliche Afro-Amerikaner. Die Welt in den Medien ist ein einziges Horrorkabinett. Die Amerikaner wähnen sich umstellt von Gefahr. Und der 11. September hat ihre Ängste nicht vermindert. Erst in den zitternden Händen der amerikanischen Paranoia, so Moores These, entwickeln die Waffen ihre tödliche Schusskraft. Paranoia ist die Volkskrankheit, Waffen sind der Virus, wuchernde Gewalt ist das Symptom. Später nennt Moore noch einen zweiten Grund für die Gewalt, bei dem er sich auf allzu bekanntes Terrain zurückbewegt: die Härte des Kapitalismus, die Eiseskälte des amerikanischen Sozialsystems und die Ausweglosigkeit vieler Underdogs.
Im Showdown seiner Filme entsichert der Regiecowboy Moore gerne die Kamera und zerrt seine Gegner zum Duell. Eins gegen Eins. Mann gegen Mann. In „Roger and Me“ war es Roger Smith, der damalige Präsident von General Motors. In „The Big One“ griff er sich Nike-Chef Phil Knight. In „Bowling for Columbine“ fordert er nun den Schauspieler, Waffennarren und NRA-Präsidenten Charlten Heston zum Rededuell vor die Kamera. Selten war die Doppeldeutigkeit des Wortes shot ─ Einstellung und Schuss ─ treffender. Heston knetet nervös seine knorrigen Hände. Am Ende humpelt er wie ein verwundeter Schütze davon. Doch bei dieser Konfrontation zeigt sich auch die Schwäche von Moores Film: Er zieht seine These nicht konsequent genug durch. Im Duell mit Heston stellt er der falschen Person die falschen Fragen.
Daher droht der Film bisweilen zu zerfleddern. „Bowling for Columbine“ ─ nach 46 Jahren der erste Dokumentarfilm im Wettbewerb von Cannes und dort mit einem Spezialpreis ausgezeichnet ─ ist weniger ein genialisch komponierter, geradeaus argumentierender Essay als eine wuchtige Materialkompilation: zum Brüllen komisch und zum Heulen schockierend. Manchmal schlägt Moore dabei, wie ein angeschlagener Boxer halbblind vor Wut, völlig am Ziel vorbei. In der primitivsten Sequenz des Films schneidet er Szenen von blutigen US-Interventionen hintereinander, während dazu auf der Tonspur Louis Armstrongs sentimentale Version von „What a Wonderful World“ läuft. Am Ende heißt es zu Bildern vom 11. September: Osama bin Laden habe an diesem Tag seine CIA-Ausbildung genutzt. Wäre der Film weniger überzeugend in seiner zentralen Hypothese ─ mit dieser Sequenz hätte sich Moore um Kopf und Kragen polemisiert.
In Zenons berühmten Paradoxon läuft die Schildkröte in einem Wettrennen vor dem Helden Achill her. Achill gelingt es zwar immer näher zu kommen, doch die Schildkröte ist immer schon ein Stück weiter. „Bowling for Columbine“ ist ein Film über die USA. Aber wenn es stimmt, dass Amerika als Avantgarde der Moderne im westlichen Fortschritt voranläuft, dann wird irgendwann der europäische Achill auch bei Moores „Bowling for Columbine“ angekommen sein. Das Massaker von Erfurt wäre dann nur der Anfang auf dem Weg in eine Kultur der Angst.