„The Five Obstructions“ (2003) von Lars von Trier
In seiner berühmten Studie über den „Homo Ludens“ behauptet Johan Huizinga, dass die menschliche Kultur auf dem Nährboden des Spiels erwachse. Das Spiel steht am Anfang aller Kultur ― wobei sich Spiel und Ästhetik nicht selten zueinander gesellen: „Vielfältige und enge Bande verbinden Spiel mit Schönheit.“
Lars von Trier ist ein Spieler. Ein kunstvoller Spieler. Es gibt weltweit nur wenige Regisseure, die mit den Bauklötzen des Kinos so häufig neuartige Gebäude bauen; die so virtuos an den Grenzen des Spielfelds herumdribbeln; die das Spiel gleichzeitig mit so einem heiligen Ernst betreiben. War nicht Lars von Triers „Dogma“-Bewegung mit ihren als Zehn Gebote getarnten Spielregeln eine einzige großartige Spielerei?
Am Anfang seines neuen Projekts ― das nun zwischen „Dogville“ und „Manderlay“ in die Kinos kommt, den beiden ersten Teilen seiner Amerika-Trilogie ― steht eine E-Mail. Datiert ist sie vom 28. November 2000. Darin fordert der Spielfilmregisseur Lars von Trier den Dokumentarfilmer Jörgen Leth zu einer Partie Kinoschach heraus. La règle du jeu: Leth soll von seinem 12-minütigen Essayfilm „Der perfekte Mensch“ (1967) fünf neue Fassungen drehen. Der Haken daran: Lars von Trier hat immer den ersten Zug. Wie bei „Dogma“ macht er Vorgaben, spricht Befehle aus, beschränkt und beschneidet die Auswahl der künstlerischen Mittel. Ein Kino der Grausamkeit. Eine negative Ästhetik. Doch Leth willigt ein. Die beiden Spielwütigen schließen einen Pakt. Handschlag. Lächeln. Gute Miene zum bösen Stil. Auf geht’s! Auf dem Spiel steht: die Ehre des Filmemachers Jörgen Leth.
„The Five Obstructions“ dokumentiert auf knapp 90 Minuten diesen Wettkampf. Der Film verfolgt Leth bei den Dreharbeiten. Seine fünf Variationen auf das Thema „Der perfekte Mensch“ sind zu sehen. Und dazwischen werden immer wieder Teile des schwarz-weißen Originals geschoben. Als am wichtigsten entpuppen sich jedoch die Treffen zwischen Leth 67, und von Trier, 48. In diesen fünf Begegnungen, die zwischen April 2001 und Mai 2003 stattfanden, essen die beiden Kaviar, schlürfen Wodka, rauchen Havannas. Vor allem aber begutachten sie, wie Leth seine Hausaufgaben erledigt hat. Wie ein Lehrer im Kunstleistungskurs urteilt und maßregelt Lars von Trier, der Jüngere ― mal enttäuscht, mal beeindruckt. Faszinierend zu sehen, wie dem Älteren dabei die Nervosität ins Gesicht geschrieben steht: Bin ich durchgefallen oder habe ich bestanden?
Anschließend handeln sie die Konditionen des nächsten Films aus. Mit mephistophelischem Grinsen stellt von Trier seine Forderungen. „Diabolisch“, entgegnet Jörgen Leth. Jedes Mal beginnt das filmische Sado-Maso-Spiel von neuem. Leth muss tun, was er fürchtet (seinen eigenen Film noch einmal drehen!). Er soll dorthin gehen, wo es weh tut (ins Slum von Bombay!). Er wird angehalten, Dinge zu machen, die er hasst (einen Zeichentrickfilm!). Die „fünf Hindernisse“ führen ihn um die ganze Welt: von Dänemark über Kuba, Indien und Belgien nach Texas und Haiti. Aber als Ziel dieser Reise, das wird im Laufe des Films immer deutlicher, schwebt dem Initiator Lars von Trier kein geographischer Ort vor. Sein Ziel ist eine kreative Therapie des verehrten Kollegen Leth. Lars von Trier, der eingestandenermaßen von Leth beeinflusst ist und „Der perfekte Mensch“ mehr als zwanzig Mal gesehen hat, quält sein künstlerisches Vorbild – um ihn von den an einer Stelle erwähnten Depressionen zu befreien? Der Jüngere legt den Älteren in künstlerische Ketten, damit der sich so gewandt wie einst der Magier Harry Houdini daraus befreit. Das gelingt Leth an manchen Stellen so verblüffend gut, dass man mit offenem Mund seine Variationsfilme betrachtet. Und plötzlich fällt es einem wie Schuppen von den Augen, dass Leth bei den Gesprächen immer auf dem Sofa Platz nimmt, während ihm von Trier wie ein Analytiker im Sessel gegenübersitzt: Filmemachen als Spiel-Therapie.
Laut Johan Huizinga stellt sich beim Spiel stets eine zentrale Frage: „Wird es glücken?“ „The Five Obstructions“, dieser ungewöhnliche Spiel-Film, macht alle glücklich, die noch daran glauben, dass das Kino auch ein Labor für Experimente sein darf. Auch das Versuchsobjekt Jörgen Leth wirkt am Ende zufrieden. Und ziemlich erleichtert: Aus, aus, aus! Das Spiel ist aus!