Wenn Männer so sehr lieben
Coming of Age at the Movies: Willi Winkler und Michael Althen schreiben elegische Huldigungen an das Kino
Zwei Kritiker. Zwei Huldigungen an das Kino. Zwei sehr persönliche Bücher. Willi Winkler und Michael Althen ─ beide aus Bayern, beide im Münchner Filmmuseum sozialisiert ─ erzählen aus dem Leben exzessiver Kinogänger. Dabei entsteht manchmal eine unheimliche Seelenverwandtschaft, eine Korrespondenz zwischen den Seiten. Deshalb kann man die beiden Bücher ruhig hintereinander lesen. Als double feature gewissermaßen.
Willi Winkler (Jahrgang 1957) blickt zurück. Er erzählt vom Großwerden im Schatten des Kinos, damals, im bayerischen Internat, in den „grausam langen siebziger Jahren“. Es ist die Geschichte vom Erwachsenwerden, die das amerikanische Kino und die deutsche Literatur so gerne erzählen. Ein kleiner Bildungsroman. Ein Initiationsfeuilleton, wenn es so etwas gäbe: die Verirrungen des Zöglings Winkler ins Kino. Winklers Text ist Nostalgie in reinstem Destillat. Er beschreibt, wie er sich nachts aus dem Dorfinternat schlich, um sich in der großen Stadt einen Wenders-Film anzuschauen. Er erzählt von der Zeit, als auf der Leinwand das nackte Fleisch lockte, während die Fronleichnamsprozession triebverdrängend durchs Dorf stapfte. „Im Kino geht es meist um Sex“, sagt Winkler. Und schon deshalb liegt es nahe, dass es für ihn zur neuen Heimat wurde. Die Flucht aus der Welt ins Kino, wo die Welt noch in Ordnung ist. Hier haben die Leiden des jungen W. ein Ende. Hier weitet sich die Enge seines „armseligen Dorfes“. Schließlich geht es hier meist um Amerika. Kino ─ das steht bei Winkler fast immer für Hollywood.
Werkexegesen und Detailanalysen sind nicht die Stärke von Winklers Texten. In seinen Rezensionen, Nachrufen und Feuilletons für die SZ ist es das anekdotische Erzählen, mit dem er besticht. Was dort mit beißender Schärfe geschieht ─ ein verstörter Leserbriefschreiber hat ihn kürzlich ins „Wörterbuch des Unmenschen“ verdammt ─, wird in seinem Buch „Kino“ meist ganz ungewohnt sanft und elegisch. Doch die Zähmung des Widerspenstigen macht Winkler noch lange nicht zahnlos. Wie man das von ihm kennt, zitiert der Bob-Dylan-Biograph gerne Popsongs oder amerikanische Literatur. Er erfindet witzige Neologismen. Er macht sich lustig über Theoriejargon. Und er streut freche asides ein (die er meist in Klammern anfügt). Winkler gibt hier den film buff mehr als den denkverdächtigen Cineasten. Doch irgendwann endet jede Initiationsgeschichte. Seit drei, vier Jahren war er kaum noch im Kino. „Das Kino verliert seine Attraktivität für erwachsene Menschen“, schreibt er.
Während Winkler erzählt wie er im Kino zum Mann heranreifte und dabei den Filmen langsam entwuchs, beschreibt Althen (Jahrgang 1962) wie er im Kino zum Kritiker wurde und deshalb immer noch gerne darin haust. „Warte, bis es dunkel ist“, Althens Coming-of-Age-Geschichte, reicht vom Porträt des Kritikers als junger Mann vor dem Fernseher bis zum späten Cinemanen. Die Mannwerdung als Rezensentengenese: wie er anfing, penible Listen über alle gesehenen Filme zu führen; wie er die ersten Vokabeln der Sprache des Kinos verstehen lernte; wie er ganz langsam zu schreiben begann.
Althen greift sich mehr Raum und dringt tiefer. Er schreibt Feuilletons über Fernsehserien und Horrorfilme, über das deutsche Kino und Hollywood, über den Vorspann und das Ende von Filmen. Er versucht die Augenblicke im Kino festzuhalten, die, ach, so schön sind. Und immer wieder ergründet er filmische Plätze in Städten: Paris, Las Vegas, Los Angeles… Manches davon war bereits in der SZ und in der Zeitschrift Steadycam zu lesen. Aber das macht nichts. Denn es ist immer noch schön und gut.
Althen ist ein Fabulierer, Schwärmer und Träumer. Während Winkler ergeben vor Isabelle Huppert niederkniet, wirft er sich vor Michelle Pfeiffer in den Staub und küsst jeden Fußabdruck, den sie auf ihrem Karriereweg hinterlassen hat. Althen dreht sprachliche Locken und Dauerwellen auf Glatzen. Und dabei gelingen ihm oft ganz wunderbare Sätze. Die düsteren Trash-Filme im Münchner Werkstattkino, beispielsweise, waren für ihn „eine Reise durch jene Dörfer, die auf dem Grund von Stauseen liegen“. Manchmal treibt ihn allerdings die Träumerei mitsamt seiner Sprache davon. Dann sprudeln die Metaphern und die Vergleiche schießen dahin wie ein reißender Fluss. Das lässt ihn beinahe an den Ufern des Kitsches stranden. Dann spricht er vom „künstlichen Paradiese“ eines Films, davon, wie Filme „Wurzeln in unserem Herzen schlagen“ oder wie Filmmusik „die Herzen überfließen lässt“.
Man fühlt sich zu Hause in den Büchern von Winkler und Althen, weil einem vieles so vertraut erscheint. Es gibt da draußen also doch ein paar Leute, die sich genauso fühlen, wenn sie im Kinosessel versinken. Manchmal genügt es ja vollkommen, wenn jemand geschliffen und stilvoll aufschreibt, was wir selbst immer schon ahnten.
Eines geht einem dann aber doch auf die Nerven, und das ist das dauernde Insistieren auf dem Kino als quasi-metaphysische Illusionsmaschine. Das Kino wird sakralisiert, die Filme werden mystifiziert. „Man geht ins Kino, so wie andere Menschen in die Kirche gehen“, schreibt Althen, „immer in der Hoffnung, jener Macht teilhaftig zu werden, die ein besseres Leben im Jenseits verspricht.“ Auch für den abtrünnigen Katholiken Willi Winkler wird der Film zum Ersatzglauben, der Erlösung von der irdischen Pein verspricht: „Wer aber ans Kino glaubt, wird selig“, bibelt WW. Bei Winkler, dem Romantik-Liebhaber, ist Kino immer nur Stimmung, Gefühl, Nostalgie. Das Kino hat „Verzauberungskraft“. Es ist ein „Mysterium“, das einen auf eine „höhere Seinsebene“ hebt. Auch Althen beschwört die „Verwandlungskraft“, den „Zauber“, das „Wunder“ des Kinos. Es ist „zweites“ oder gar „besseres Leben“, das einem hilft, die „Wirklichkeit zu überwinden“.
Das Kino als moralische Anstalt betrachtet? Als Ort zur intellektuellen Erziehung des Menschengeschlechts? Mit solch altmodischem Hochkulturgeschwafel braucht man den beiden nicht zu kommen. Das Kino ist für sie kein Ort des Denkens, sondern ein dunkles Labor der Magie und Alchemie. Einigermaßen desillusionierend für jemanden, der Filmemacher wie Bergman, Kubrick und Fassbinder, Haneke und Cronenberg bewundert, die den Film als intellektuelles Medium perfektionierten.
Am liebsten, so scheint es, würden die beiden ganz vom Kino umsponnen werden. Hineinkriechen in die Leinwand, wie der Junge in „Last Action Hero“. Ist der Filmkritiker am Ende jemand, der sich unwohl fühlt in seiner Haut? Einer, der sich nach andauernden Metamorphose sehnt? Ist er eine melancholische Larve, die sich durch das Kino aus ihrem Raupenkokon schälen und dann als Nachtfalter oder schöner Schmetterling entpuppen möchte? Wenn ja: Dann hat diese Spezies hier jedenfalls zwei gelungene Exemplare hervorgebracht.
Willi Winkler: Kino. Kleine Philosophie der Passionen. Dtv, München, 2002. 133 Seiten.
Michael Althen: Warte, bis es dunkel ist. Eine Liebeserklärung ans Kino. Blessing, München 2002. 256 Seiten.