Rezension zu David Bordwells Visual Style in Cinema.

In: Frankfurter Rundschau. September 2001.

Der Kino-Erklärer
Mit „Visual Style in Cinema“ liegt erstmals ein Buch des bedeutenden Filmwissenschaftlers David Bordwell auf Deutsch vor

David Bordwell: „Visual Style in Cinema. Vier Kapitel Filmgeschichte“. Herausgegeben und eingeleitet von Andreas Rost. Verlag der Autoren. Frankfurt/Main, 2001. 212 Seiten mit zahlreichen Abbildungen.

Endlich. Es wurde aber auch Zeit. Seine Bücher sind von Spanien bis China übersetzt. Doch in Deutschland war David Bordwell ─ Filmprofessor in Madison (Wisconsin) und einer der bedeutendsten amerikanischen Forscher seines Fachs ─ bislang nur durch Gastvorträge und ein paar versprengte Aufsätze in Sammelbänden vertreten. Das hat sich jetzt geändert.

Bordwell hat Studien über Dreyer, Ozu und Eisenstein geschrieben und jüngst auch über das Hongkong-Kino. Seine Bücher „Narration in the Fiction Film“ und „The Classical Hollywood Cinema“ (mit Kristin Thompson und Janet Staiger) stehen abgewetzt in den Bibliotheksregalen: zerlesene erlesene Bücher. Mit einem Wort: Klassiker. Mit „Film History: an Introduction“ haben Bordwell und Thompson ihre studentischen und cineastischen Leser an der Hand genommen und durch das Dickicht der Filmgeschichte geführt. Und Bordwells „Film Art: an Introduction“ (ebenfalls mit Kristin Thompson) gilt in Filmeinführungskursen als Pflichtlektüre. Auf Deutsch muss man sich allerdings immer noch mit James Monacos „Film verstehen“ begnügen, das der Rowohlt-Verlag seit über 20 Jahren in einer Neuauflage nach der anderen herausbringt.

Mit viel Wut im Bauch hat David Bordwell immer wieder gegen die zeitgenössische Filmwissenschaft angeschrieben. In „Making Meaning“ spielte er den Maschinenstürmer, der gegen die gut geölt laufende Interpretationsfabrik der Filmforschung revoltiert. Das Buch war eine scharfsinnige Polemik, mit der er seinen Kollegen die Konventionen und routinierten Spielereien ihrer Filminterpretationen um die Ohren haute. Bordwell ist ein leidenschaftlicher Kämpfer gegen die Übermacht der Hermeneutik, der Auslegungstradition in der Filmwissenschaft. Die sture Suche nach Bedeutung habe viele Kritiker blind gemacht für stilistische Nuancen, sagt er. Noch immer werde mit den ästhetischen Vorstellungen von Rudolf Arnheim, Eisenstein und André Bazin argumentiert, die alt und angreifbar geworden seien. Um die Form kümmere sich keiner, alle stierten auf den Inhalt. Und das vor allem, um den Film als Illustrationsbeispiel für die Grand Theories von Saussure, Lacan, Althusser und Barthes zu benutzen. Aus deren Klammergriff versucht Bordwell die Filmwissenschaft zu befreien ─ und hat deshalb vor einiger Zeit mit Noël Carroll die Aufsatzsammlung „Post-Theory“ herausgegeben und darin wieder mal zum Angriff geblasen. Wen wundert’s, dass so einer nicht nur Freunde hat im Akademikerland? Zumal Bordwell mit einer unerhörten Produktivität Bücher auf den Markt wirft und dabei mit geradezu provokativer Lesbarkeit schreibt.

Bordwell will den Film als Kunstform schärfer ins Visier nehmen. Dafür schlägt er als Objektiv keine weitwinkligen Großtheorien vor, sondern den tele-objektivischen Blick der Kognitionswissenschaft und einer empirischen Forschung. Sein Ziel ist eine „historische Poetik des Kinos“: Wie sind Filme aufgebaut? Warum haben sich Stilprinzipien durchgesetzt? Wie wirken die Effekte des Kinos? Als Neo-Formalisten hat er sich deshalb bezeichnet. Sein Hätschelkind ist das Stiefkind vieler Filmwissenschaftler: der Filmstil. Um ihn geht es auch in seinem neuen Buch.

Mit „Visual Style in Cinema“ ist Bordwell in Deutschland angekommen. Ein Anfang. Ein erster Schritt. Ein kleiner Schritt. Denn dieser Band ist physisch und intellektuell vergleichsweise leichtgewichtig. Bordwell hat schon Schwerwiegenderes publiziert. Außerdem wurde vieles in seiner Studie „On the History of Film Style“ angesprochen. Dennoch mag man auf dieses Buch nicht verzichten, denn es präsentiert Bordwell in action. Das Buch basiert auf vier Vorlesungen, die er im Juni 1999 in München gehalten hat. Und wer einmal einen Bordwell-Vortrag gesehen hat, weiß, vor welcher Aufgabe der Verlag hier stand: Dutzende von Dias und Filmausschnitten flackern über die Leinwand wie in einem rasant geschnittenen Film. Das Buch versucht, dies durch zahllose Abbildungen zu retten.

Mit Erfolg. In diesem Buch ist Bordwell, der Bildgelehrte, ganz nah dran am Gegenstand. Ein Kinoübersetzer, der den Lesern die Sprache des Films vermittelt. Von Méliès bis Marylin, von den Lumières bis Lola rennt er durch das Jahrhundert des Films. Er folgt den Hauptwegen der Stiltradition und sucht nach den Seitenpfaden der Filmgeschichte. Dabei fokussiert er die Frage nach der Blickführung des Zuschauers: Was zeigt der Film? Was fällt aus dem Blickfeld? Und wie gelingt es dabei, das Publikumsinteresse zu kitzeln?

Bordwell versteht die visuelle Tradition als eine Geschichte von Problemlösungen. Er fragt, wie Regisseure mit technischen Beschränkungen umgehen und auf Neuerungen reagieren. Dabei greift er alte Stilgeschichtskonzepte an und ergänzt Bazin. Er kratzt am Bild von D. W. Griffith. Und er stellt die Tradition in Frage, nach der Film vor allem Montage sei. Denn Bordwell verortet das Kino zwischen Theater und Malerei: Zeitablauf und Bewegung einerseits; Komposition in engem Rahmen und eine einzige Sichtachse andererseits. Das Publikum sieht den Film, anders als im Theater, wie durch eine visuelle Pyramide, die sich keilförmig nach hinten vergrößert. Und viel stärker als auf der Bühne sind dadurch genaue, hierarchisch gestaffelte Arrangements möglich. Bordwell nennt sie „Präzisionsinszenierungen“. Sie sind das Gegenteil des Montage-Kinos.

Am Ende macht er deutlich, wie der Weg dieser tiefeninszenierten, langen Einstellungen langsam versandet. Statt dessen reiten heute die Filmemacher auf dem Königsweg der schnellen Schnitte und Kameraexzesse, der geebnet wurde durch Fernsehen und Werbung, Videoclip und Actionfilm. Dabei kommt Nostalgie auf bei Bordwell, der die Präzisionsinszenatoren von Sjöström bis Hou Hsiao-Hsien bewundert.

Das alles ist mit scharfem Auge beobachtet. Und doch lauert die Frage des hermeneutisch erzogenen Lesers: Ja und? Man erwartet kühne Interpretationen oder spekuliert mit spitzfindigen Auseinandersetzungen um Ideologie und gesellschaftliche Relevanz. Reingefallen! Das sind genau die falschen Erwartungen an einen Formalisten. Bei Bordwell ist alles eine Frage des Stils. Von Bordwell lernen, heißt deshalb vor allem: sehen lernen.

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