Wolfsburg (Christian Petzold, 2003)

„Wolfsburg“ (2003) von Christian Petzold

Ein dumpfer Knall. Dann liegt plötzlich ein Junge halbtot auf der Straße. Philipp (Benno Führmann) schaut kurz in den Rückspiegel. Dann gibt er Gas. Er flieht vom Unfallort. Doch sein Gewissen lässt sich nicht abhängen. Bald schon fängt es an zu wühlen.

Laura (Nina Hoss), die alleinerziehende Mutter des Jungen, arbeitet am Tiefkühlregal des Supermarkts. Ihr kaltes Lebens zerbröckelt, als der Junge stirbt. Wie Kim Novak in „Vertigo“ geht sie ins Wasser. Doch auch sie wird gerettet. Von Philipp. Der sie tröstet. Ihr einen neuen Job besorgt. Wiedergutmachung versucht (oder soll man sagen: Buße?). Von dem Unfall sagt er nichts. Phillip will sich dem Unausweihlichen entziehen. Er kettet sich an seine Freundin Katja (Antje Westerfeldt). Verreist mit ihr. Heiratet sie sogar. Doch die Regeln des Genres sind unerbittlich: Philipp verliebt sich in Laura. Das Geständnis aber (oder soll man sagen: die Beichte?) mag ihm nicht gelingen. Irgendwann ist es dann zu spät: Auch Laura verliebt sich in Philipp. Und die Frage nach dem Verzeihen (oder soll man sagen: der Vergebung?) steht weiter im Raum.

Douglas Sirk, der schon Fassbinder und zuletzt Todd Haynes zu Melodramen inspirierte, hat in „Magnificent Obsession“ eine ähnliche Handlung ausgebreitet. Die Geschichte könnte also melodramatischer nicht sein. Doch das Blut ist nicht in Wallung in diesem Film. Der Puls schlägt langsam. Es wirkt, als habe Petzold sein Melodram gerade aus dem Kühlregal von Lauras Supermarkt gegriffen. Eine hauchdünne Eisschicht überzieht den Film, dessen Bilder kalt und klar sind. Die Farben sind frostig. Nur das Rot des Autos, der Bettwäsche, des Nagellacks dringt wie ein Einsprengsel in diese gedämpfte Raureif-Welt. Es gibt wahrscheinlich im Moment niemanden im deutschen Kino, der seine Bilder so frei räumt von allem Plüsch und Plunder wie Christian Petzold.

Dazu kommt, dass Petzold all die klassischen Momente der Gefühlsexplosion feinsäuberlich entfernt hat: die Versöhnungsszene nach dem Beziehungskrach; die Reaktion auf die Nachricht vom Tod des Jungen; die Hochzeitsfeier; Philipps Rauswurf aus der Firma… Alles mit kühler Hand viviseziert aus dem sonst so pulsierenden Fleisch des Melodrams, diesem Genre, das sich gerade durch den rasenden Überschwang von Freud und Leid definiert. „Und?“ fragt Philipps Schwager nachdem sich wieder einmal ein Beziehungseklat in Versöhnung aufgelöst hat. „Tja“, sagt Philipp nur. Und sagt damit alles. Ein Fetzen von Dialog. Mehr nicht. Und auch die heulenden Geigen schweigen. Die Filmmusik ist zusammengestaucht auf wenige, kurze Momente. Petzolds glaciertes Melodram ist wie eine witzige Tragödie, wie ein ereignisarmer Actionfilm: ein Paradox. Und doch funktioniert es.

Gerade der Purismus, macht diesen Film so exakt und hochkonzentriert. Mit seinen Zitaten, Anspielungen und bekannten Versatzstücken hätte „Wolfsburg“ ein knallbuntes, postmodernes Märchen werden können ─ ein Baz-Luhrmann-Film. Petzold könnte nicht weiter davon entfernt sein: Understatement und Auslassung statt Übertreibung und Wucht. Doch bei aller Schnörkellosigkeit, ein paar augenzwinkernde Vignetten gibt es. Die vom Autoverkäufer Philipp, zum Beispiel, der in der Autostadt Wolfsburg einen Autounfall verursacht ─ und dabei auf Laura trifft, die ständig mit dem Fahrrad unterwegs ist.

Petzolds Film ist auch ein Spiel der Augen. Der hellblaue Blick von Benno Führmann kreuzt sich mit den dunkelblauen Traueraugen von Nina Hoss. Vielleicht kommt Führmann, dieser vitale Bursche, dabei in seiner beinahe somnambulen Rolle nicht an gegen die Intensität von Nina Hoss. Vielleicht ist manchem auch der christliche Unterton von Beichte, Buße und Vergebung zu befremdlich. Und vielleicht ist Petzold jetzt an dem Punkt, wo er aufpassen muss, dass er sich nicht wiederholt. Wie zuletzt in „Toter Mann“ verwickelt sich eine Frau in die obsessive Suche nach dem Mann, der verantwortlich ist für ihre emotionalen Blutungen. Und wie in „Die innere Sicherheit“ läuft es am Ende auf den großen Knall hinaus. Ein Selbstzitat, das fast zu offensichtlich ist. Vielleicht sollte man aber das Mäkeln einfach lassen.

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