Waking Life (Richard Linklater, 2001)

Ansichten eines Traums
„Waking Life“ von Richard Linklater (2001)

Der Namenlose erwacht aus einem Alptraum. Und bleibt doch im Reich des Traums gefangen. Und erwacht wieder. Und wird noch immer nicht aus seinen Träumen entlassen. Er hat die Augen weit geschlossen: ein Traum im Traum im Traum. Der Namenlose (Wiley Wiggins) schlafwandelt durch die Stadt. Er taucht auf in Cafés, Studentenbuden und Schlafzimmern. Auf der Straße treibt er sich herum oder in einem Gefängnis. Und immer wieder trifft er auf eine Galerie seltsamer Gestalten: Selbstdarsteller und Paranoide, Intellektuelle und Esoteriker, Schwafelköpfe und Neurotiker. Der Regisseur Steven Soderbergh hat einen Kurzauftritt. Julie Delpy und Ethan Hawke liegen gemeinsam im Bett. Und noch ganz andere Figuren kehren wieder, die man kennt aus dem Universum des Richard Linklater.

Sie alle reden, brabbeln, labern. Über Existenzialismus und Evolutionstheorie, Reinkarnation und Anarchismus, André Bazins Ontologie des Films und die Gesellschaft als solches und an sich. „Waking Life“ erzählt keine Geschichte ─ er lässt erzählen. Und hört zu. Überhaupt muss man Richard Linklaters Filme als einen großen Lauschangriff verstehen. In „Slacker“ (1991) hat er 100 Personen zugehört. In „Dazed und Confused“ (1993) waren es 20. In „Before Sunrise“ (1994) nur noch zwei. Man macht es sich als Zuschauer gemütlich und lässt sich mit einer warmen Decke aus Dialogen umhüllen.

Nach „Suburbia“ (1996) und „The Newton Boys“ (1998), seinem Abstecher ins große Hollywood-Historienkino, ist Linklater wieder zur Zuhör-Form seines Debütfilms zurückgekehrt. Scheinbar. Denn eigentlich geht er weit über das Bekannte hinaus: Linklater hat mit „Waking Life“ zu einem Experiment ausgeholt, wie man es sich bisher nicht hat träumen lassen. Ursprünglich mit Digital-Videokameras gedreht, wurden die Realaufnahmen nachträglich mit Computer-Software rotoskopiert, das heißt: zu einem knallbunten Animationsfilm verfremdet. Dabei bekam jeder Gestalter eine Filmfigur zugeordnet, die er nach seinem eigenen Geschmack animieren konnte. Das Ergebnis sieht mal aus wie Malen-nach-Zahlen, mal wie ein japanischer Manga. Dann fühlt man sich an Zeitungskarikaturen erinnert, an Kinderbilderbücher oder die Gemälde des Afroamerikaners Jacob Lawrence. Und irgendwie muss man auch an „Herr Rossi sucht das Glück“ denken, diese psychedelische Zeichentrickserie aus den 70er Jahren. Die Welt wabbelt und wogt. Alles fließt und verschiebt sich. Die Bilder sind ständig in Bewegung, als gäbe es keinen festen Halt.

Herausgekommen ist so etwas wie ein Zettelkasten-Film zum Thema Traum. Ein Film, der aus Theoriegeraune, Fragen nach den letzten Dingen und namedropping besteht: von Timothy Leary und Thomas Mann über Augustinus und Aristoteles bis Billy Wilder und Benedict Anderson… Nur einer fehlt erstaunlicherweise in diesem Film über das Träumen: der Deuter Dr. Freud. Schwer zu sagen, worum es in dem Film eigentlich geht. Die Visualisierung von Träumen? Das Katalogisieren von Traum-Ansichten? Das Hypnotisieren des Zuschauers, der sich selbst bald in einem Traum (also schlafend) wähnt? Am Ende hebt der Namenlose ab und entschwebt wie der Hubschrauber in Tom Tykwers „Heaven“. Dem Himmel sei Dank: Der Traum ist aus.

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