Je verrai toujours vos visages (Jeanne Herry, 2023)

In ihrem dritten Spielfilm widmet sich Jeanne Herry dem psychologischen Wiedergutmachen von Verbrechen. Das ist packendes Dialog-Kino.

Seit 2014 gibt es auch in Frankreich die Praxis der «restorative justice», bei der Opfer und Täter:innen in einen Dialog treten, oft vermittelt durch speziell ausgebildete Mediator:innen. Dabei geht es weniger um die legalen Normbrüche und das Übertreten von Gesetzen durch die Täter:innen – im Zentrum steht die Wiedergutmachung des Opfer-Leids. Dass dabei auf beiden Seiten mit psychologisch harten Bandagen gekämpft wird und mit verbalen Tiefschlägen allzeit zu rechnen ist, zeigt der dritte Spielfilm von Jeanne Herry auf ergreifende, ja erschütternde Weise. «Restorative justice» sei ein Kampfsport, sagt schon früh im Film ein Ausbilder der Mediator:innen. Doch die 45-jährige Regisseurin macht auch deutlich: Es ist Kampfsport, der bei gutem Ausgang beide Seiten gewinnen lässt.

In den knapp zwei Stunden von Je verrai toujours vos visages flicht Herry, die auch das Drehbuch dieses Gefängnisfilms der anderen Art geschrieben hat, zwei Haupterzählstränge gekonnt ineinander. Zum einen erzählt sie von der Endzwanzigerin Chloé, die von der Mediatorin Judith darauf vorbereitet wird, mit einem Mann zusammentreffen, der sie über Jahre als Kind vergewaltigt hat: ihr eigener Halbbruder. Zum anderen geht es um Sabine, Nawelle und Grégoire, eine dreiköpfige Gruppe von Überfallsopfern, die mit den Mediator:innen Fanny und Michel in ein Gefängnis fahren und dort in einem Stuhlkreis vier Tätern gegenübersitzen werden.

Dabei handelt es sich nicht um die Männer, von denen sie seinerzeit überfallen wurden. Vielmehr geht es über viele Sitzungen verteilt, um einen generellen Perspektivwechsel auf beiden Seiten. Was haben die Gefängnisinsassen gedacht, als sie brutal in Häuser eingedrungen sind und Supermärkte ausgeraubt haben? Was fühlen Opfer, wenn sie beraubt, getreten und mit einer Waffe zwischen den Augen bedroht werden? Und was geht in ihnen vor, seitdem ihr Leben von einem Moment auf den anderen aus den Angeln gehoben und nie wieder ins rechte Lot gebracht wurde? Je verrai toujours vos visages – auf Deutsch ungefähr: Ich werde Eure Gesichter immer vor mir sehen – zeigt, wie 10 Minuten Gewalt ein Leben komplett verändern und in Panikattacken, Selbstbeschuldigungen oder Depressionen münden lassen können.

Herry verzichtet dabei beinahe komplett auf Rückblenden. Was sie dem Publikum aus der Vergangenheit vor Augen führt sind eher kurze Erinnerungsschnipsel denn Bebilderungen der Taten. Stattdessen vertraut sie klug der Kraft des suggestiven Verbalisierens. Ihre pointiert geschriebenen Dialoge und die bestechend spielenden Darsteller:innen inszenieren ein regelrechtes Kino im Kopf: Durch die stillen, konzentrierten Unterhaltungen werden die Überfälle spannend wie im Thriller nachvollziehbar und die Angst, Wut, Hass und Trauer der Opfer körperlich spürbar. Dazwischen schiebt Herry immer wieder kurze Momente der drei Mediator:innen: bei der Ausbildung, beim Essengehen, bei einer Autofahrt. Es sind Momente des Durchatmens — für die drei Figuren, aber auch fürs Publikum im Kino.

Was man dabei nicht erwarten sollte, ist eine tiefergehende Suche nach systemischen Ursachen; warum die Täter ihre Verbrechen begangen haben, bleibt eine Leerstelle. Nur gelegentlich flammt ein Appel der Opfer auf, die Täter hätten sich ihrer Verantwortung bewusst sein müssen. Was man dem Film zudem vorwerfen könnte, ist das einseitige Bild der Täter: Sie sind allesamt männlich, als gäbe es keine Gewaltverbrechen von Frauen. Dennoch: Das packende Dialog-Kino von Je verrai toujours vos visages besticht als Plädoyer für den Erfolg von «restorative justice»-Programmen.

https://www.filmbulletin.ch/articles/herry-je-verrai-toujours

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