Saint Omer (Alice Diop, 2022)

Mit beeindruckender Genauigkeit rekonstruiert Alice Diop einen realen Gerichtsfall – es geht um Rassismus, Kindesmord und Mutterschaft.

Regie Alice Diop

Buch Alice Diop, Amrita David, Marie NDiaye

Kamera Claire Mathon

Mit Kayije Kagame, Guslagie Malanda, Valérie Dréville

Im Dunkel der Nacht: Eine afrikanische Frau geht, an irgendeinem Strand dieser Welt, langsam, aber zielstrebig auf einen aufgewühlten Ozean zu. Im Arm trägt sie, so vermutet man, ihr Kind. Was hat sie vor, was treibt sie an? Noch bevor böse Ahnungen bestätigt werden, gibt es einen harten Schnitt. Die Erzählung wendet sich plötzlich einer anderen schwarzen Frau zu. Doch bald stellt sich heraus: Die beiden haben vieles gemeinsam – als wäre die eine ein nur leicht verzerrtes Spiegelbild der anderen. Beide Frauen sind hochgebildet, beide verfolgt ein zerrüttetes Verhältnis zu ihren Müttern, beide sind verwickelt in Beziehungen zu weißen Männern. Der entscheidende Unterschied: Die in Frankreich lebende Senegalesin Laurence (Guslagie Malanda) steht stoisch als Kindermörderin vor Gericht, während die senegalisch-stämmige Französin Rama (Kayije Kagame) als Schriftstellerin beunruhigt die Verhandlung im Saal verfolgt.

Dieser Prozess, der einen realen Fall aus dem Jahr 2013 aufgreift, findet statt ganz im Norden Frankreichs, an der Atlantikküste unweit von Dünkirchen, im Städtchen Saint-Omer. Der Filmtitel Saint Omer lässt den Bindestrich weg, vielleicht um die christlich-abendländischen Wurzeln des Ortes und seine Verbindung zum Heiligen Audomar noch deutlicher herauszustreichen. Es ist jedenfalls eine Umgebung, in die Laurence und Rama nicht zu passen scheinen: Als die Pariserin Rama einmal in eine örtliche Parade der weißen Landbevölkerung gerät, taumelt sie verwirrt und von der Feierlaune befremdet in ihr Hotel.

Bei den Filmfestspielen in Venedig wurde Saint Omer – neben dem Großen Preis der Jury – auch für das beste Spielfilmdebüt ausgezeichnet. Davor hatte Alice Diop, geboren 1979, jedoch bereits zwei preisgekrönte abendfüllende Dokumentarfilme vorgelegt. Und das sieht man ihrem Film an. Auch wenn Saint Omer im Kern ein Gerichtsfilm ist, interessiert sich Diop nur beiläufig für die Hauptattraktionen des Genres: die spannungsgeladene Aufklärung des Falles und die bestechende Rhetorik der Plädoyers. In seiner asketisch-beharrlichen Rekonstruktion des Prozesses erinnert der ambitionierte Film eher an das Dokumentartheater der sechziger Jahre – an Rolf Hochhuth, Heinar Kipphardt und Peter Weiß. Mit geduldig-langen Einstellungen verfolgt Diop neugierig das Ritual der französischen Gerichtsbarkeit, vor allem aber fängt sie ihre Protagonist:innen in klar komponierten Kompositionen ein und hört ihnen gebannt zu: Es gilt das gesprochene Wort, in all seinen Paradoxien und Grausamkeiten.

Oft sehen wir dabei Laurence mit ausdruckslosem Gesicht im Anklagestand stehen. Sie trägt ein ockerfarbenes Oberteil und verschwindet beinahe vor den Holzpanelen des Gerichtssaals. Später wird sie aussagen, wie wenig sie sich gesehen fühlt in der von Weißen dominierten Gesellschaft. Wie der Protagonist in Ralph Ellisons Roman «Invisible Man» (1952) ist sie durch ihre schwarze Hypersichtbarkeit zu sozialer Unsichtbarkeit verdammt – vor der Tötung ihres Kindes, so erfahren wir, hatte sich Laurence kaum mehr aus dem Haus gewagt.

Doch Saint Omer ist nicht nur ein Film über Rassismus. Neben Verweisen auf Marguerite Duras‘ und Alain Resnais‘ Hiroshima, mon amour (1959) flicht Diop wiederholt Bezüge zur griechischen Mythologie ein. Über die Kindsmörderin Medea, die hier in Pasolinis Verfilmung (1969) in der Verkörperung von Maria Callas zu sehen ist, wirft der Film die Frage auf, was es heißt, Frau und Mutter zu sein. Diops durchaus verblüffende Antwort darauf lautet: eine Chimäre.  

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