A Hero (Asghar Farhadi, 2022)

Asghar Farhadis packende Parabel zeigt einen Mann, gefangen im dicht geknüpften Gewebe der iranischen Gesellschaft. Sein einziger Ausweg womöglich: nicht zu lügen – aber auch nicht die Wahrheit zu sagen.

Regie Asghar Farhadi

Buch Asghar Farhadi

Kamera Ali Ghazi

Darsteller:innen Amir Jadidi, Mohsen Tanabandeh, Fereshteh Sadrorafaii, Sahar Goldoust

Aus der Vorgeschichte des Kinos kennen wir das Thaumatrop als eines der einfachsten und zugleich raffiniertesten Illusionsspielzeuge: Eine Scheibe mit zwei Motiven – sagen wir: ein Vogel auf der einen Seite, ein leerer Käfig auf der anderen – ist an den gegenüberliegenden Enden jeweils mit einer Schnur verknüpft; verdreht man die beiden Fäden und zieht daran, rotiert die Scheibe um die eigene Achse. Wie magisch verschwimmen die beiden Bilder im Auge des Betrachters – und plötzlich sitzt der Vogel im Käfig. Die Filme des iranischen Regisseurs Asghar Farhadi, moralische Parabeln mit neorealistischem Zugriff auf die Welt, ähneln dieser Wunderscheibe. Erst bekommen wir die heldenhaften Charakterseiten seiner Figuren vorgeführt, dann die fragwürdigen (oder umgekehrt) – und im Zusammenspiel verschmilzt alles zu jener Komplexität, die uns Menschen nun einmal auszeichnet. Wenn es eine Haupteigenschaft des Melodrams ist, Helden und Schurken überdeutlich zu markieren, dann sind die meisten Farhadi-Film Anti-Melodramen: Stets verwischen hier die Grenzen zwischen rechtschaffen und unredlich, aufrichtig und geheimniskrämerisch.

Das gilt erst recht für seinen jüngsten Film „A Hero“, dessen Titel ebenso ironisch wie wörtlich zu verstehen ist. Aber wie fasst man einen Film zusammen, der sein Publikum zunächst einmal im Unklaren lassen will? Es würde seine Wirkung pulverisieren, wüsste man vorab, was Farhadi Trippelschritt für Trippelschritt enthüllt. Die Zuschauer:innen sollen sich in seinem moralischen Labyrinth – das ist ein zweites Hauptmerkmal des Farhadi-Kinos – genauso ihren Weg bahnen müssen wie die Figuren. Deshalb nur knapp: Rahim Soltani (Amir Jadidi) – schöne Augen, sanfte Stimme und fast immer ein freundliches Lächeln im Gesicht – sitzt im Gefängnis, weil er seinem Gläubiger Bahram (Mohsen Tanabandeh) die Schulden nicht begleichen konnte. Zwei Tage Freigang will er nutzen, um seinen Kredit abzubezahlen. Rahims Familie und seine heimliche Geliebte Farkondeh (Sahar Goldoust) sollen ihm dabei helfen. Doch auch die Gefängnis-Direktion, eine Wohltätigkeitsorganisation, das Fernsehen, die sozialen Medien und der Gläubiger verfolgen eigene Interessen.

Man tritt Mohsen Makmalbaf, Jafar Panahi, Mohammad Rasulof oder Bahman Ghobadi nicht zu nahe, wenn man behauptete, der 49-jährige Farhadi sei der einflussreichste lebende Regisseur dieses mit einflussreichen Regisseuren vollen Landes. Zuletzt hat er seine Filme abwechselnd im Iran und in Europa gedreht: Auf den Oscar-Gewinner „Nadar und Simin“ (2011) folgte das französische Drama „Le passé“ (2013); nach dem zweiten Oscar für „The Salesman“ (2016) drehte er zuletzt in Spanien „Offenes Geheimnis“ (2018). Mit „A Hero“ kehrt er wieder in den Iran zurück, jedoch nicht nach Teheran, sondern in die südlicher gelegenen Millionen-Stadt Shiraz. Dabei springt im Vergleich zum spanischen Vorgängerfilm ins Auge, wie Farhadi angesichts der staatlichen Zensur die Heißblütigkeit herunterreguliert: Da die Scharia-Gesetze den körperlichen Kontakt von Mann und Frau auf der Leinwand verbieten, berühren sich Rahim und seine Geliebte Farkondeh kein einziges Mal.

Stattdessen zieht uns der Film hinein in eine Gesellschaft, die ihre Augen überall hat. Vor der familiären, nachbarschaftlichen, medialen und staatlichen Überwachung gibt es kein Entkommen, weshalb jeder seine Geheimnisse pflegt. Das soziale Gewebe: es ist dichter geknüpft als ein edler Perserteppich. Immer wieder geht es in langen Rededuellen und Gerichtsanhörungen um Schande und Ehre, um Demütigung, Selbsterniedrigung und das Wahren des Gesichts. Unweigerlich muss man an ein berühmtes Buch des Soziologen Erving Goffman denken, das in der deutschen Übersetzung den Titel „Wir sind alle Schauspieler“ trägt. Der Film entwickelt dabei einen faszinierenden Boa-constrictor-Effekt: Farhadi filmt viel in engen Räumen und Ali Ghazis Kamera lugt durch Gitter, Zäune und Tore. Das Labyrinth der Figuren: veranschaulicht durch verengte Bilder.

Im Kern kreist „A Hero“ um einen klassischen Hitchcock‘schen Macguffin: eine Tasche mit Goldmünzen, gefunden an einer Bushalte-Stelle mitten in der Stadt. Das klingt ziemlich hanebüchen. Und tatsächlich wäre die Handlung völlig unglaubwürdig, hätte sie sich nicht so (oder so ähnlich) zugetragen. Denn Farhadi hat seinen Film auf der Grundlage eines realen Falls entwickelt. Oder sollten wir besser sagen: Er hat sich von dem 44-minütigen Dokumentarfilm „All Winners, All Losers“ (2019) seiner ehemaligen Studentin Azadeh Masihzadeh inspirieren lassen, die ihre Idee als Teilnehmerin eines Farhadi-Workshops entwickelt hatte? Und hier wird es dann wieder, wenngleich auf andere Art, verwickelt und vielleicht sogar verschlagen. Denn Masihzadeh hat Klage gegen Farhadi wegen Plagiarismus eingereicht, Farhadi wegen Verleumdung zurückgeklagt. Noch ist der Fall nicht geklärt. Warum Farhadi seine Studentin mit keiner Zeile im Abspann erwähnt und sie stattdessen zu einer Verzichtserklärung überredete, das bleibt bislang sein Geheimnis. Es ist beinahe der Stoff für – einen Farhadi-Film.

https://www.filmbulletin.ch/articles/a-hero-farhadi-kritik

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