„American Gangster“ (2007) von Ridley Scott
Harlem, Anfang der siebziger Jahre: Frank Lucas (Denzel Washington), angehender Großgangster, sitzt in seinem Stammrestaurant. Er hat seine Brüder und Cousins um sich versammelt. Die Familie soll eingeschworen werden auf ein künftiges Leben in der Kriminalität. Da sieht Lucas durch das Fenster einen Rivalen die Straße entlangkommen. Er steht auf, geht hinaus, spricht ihn an − und jagt ihm eine Kugel in den Kopf. Kaltblütig, auf offener Straße und am helllichten Tag. Während sich die Passanten panisch in alle Richtungen verstreuen, kehrt Lucas gleichmütig zur Verwandtschaft zurück und fragt: „So what was I saying? − Wo war ich stehengeblieben?“ In dieser prägnanten Szene verdichten sich Gegensatzpaare, die thematisch den gesamten Film durchziehen: Familie und Öffentlichkeit, Recht und Illegalität, Ordnung und Chaos. Diese Gegensätze lässt Regisseur Ridley Scott mit solcher Wucht aufeinanderprallen, wie man sich es sich von amerikanischem Erzählkino nur wünschen kann.
Anders als der klassische Hollywood-Film, in dem die Rollen von Gut und Böse aufgrund der Selbstzensur des „Production Codes“ noch klar verteilt werden mussten, liebt der moderne Gangster- und Polizeifilm das Spiel mit komplexen Spiegelungen und Symmetrien. Denken wir an Michael Manns „Heat“: Der Ganove Robert De Niro und der Polizist Al Pacino unterscheiden sich nur in ihrer Profession, nicht aber in ihrer egomanischen, eiskalten Professionalität − und könnten daher problemlos die Rollen tauschen. Oder nehmen wir Martin Scorseses „The Departed“: Der Copgangster Leonardo diCaprio und der Gangstercop Matt Damon arbeit für ein jeweils anderes Lager, als sie vorgeben − und verlieben sich dabei auch noch punktsymmetrisch in dieselbe Frau. Ridley Scott und sein Drehbuchautor Steven Zaillian verzerren in „American Gangster“ das Gut-Böse-Schema, indem sie die Kontrahenten genau spiegelverkehrt anlegen. Auf der einen Seite: der schwarze Gangster Frank Lucas, der sein Familienleben in harmonischer Ordnung organisiert und gleichzeitig die Welt da draußen rücksichtslos ins kriminelle Chaos stürzt. Auf der anderen Seite: der jüdische Polizist Richie Roberts (Russell Crowe), dessen Familie zerrüttet ist, der aber die ruinösen Reste von Recht und Ordnung aufrechtzuerhalten versucht − wenn nötig mit Gewalt.
Auch wenn sich Franc Lucas gerne wie der Robin Hood von Harlem aufspielt und Brot an die Armen verteilt, schert er sich einen Dreck um die versifften, verreckenden Ghetto-Junkies. Eisern-machiavellistisch zieht er sein Drogen-Imperium auf, indem er das Wirrwarr und die moralische Verrohung des Vietnamkrieges für den Heroin-Import nutzt. Dabei kommen ihm nicht nur südostasiatische Pflanzer entgegen sondern auch korrupte US-Militärs und New Yorker Cops. Mit protestantischer Arbeitsethik − also ganz im Geiste des Kapitalismus − organisiert Lucas seine eigene Bewusstseinsindustrie, vor der sogar die Mafia in die Knie gehen muss. Zu Hause aber ist er ein treuer Ehemann und Bilderbuchsohn, der seiner verarmten Mutter ein Leben in Pracht ermöglicht.
Sein Gegenüber Richie Roberts dagegen ist in einen Sorgerechtsstreit mit seiner Ex-Frau verwickelt. Das liegt zum einen daran, dass er alles vögelt, was bei drei keinen Keuschheitsgürtel umgeschnallt hat. Es hat aber vor allem damit zu tun, dass er die öffentliche Unordnung mit solcher Inbrunst wieder in geordnete Bahnen lenken will, dass dabei sein vernachlässigtes Familienleben mit Karacho entgleist. Roberts mag bei Frauen ein spitzer Finger sein, anders als seine Kollegen würde er sich aber nie mit schmutzigem Geld die Hände schmierig machen. Wer ist hier der good guy und wer der bad boy? Nicht zuletzt, weil sich Denzel Washington und Russell Crowe auf der Höhe ihres Könnens bewegen, erlaubt „American Gangster“ dem Zuschauer ein Wühlen im Sortiment der Persönlichkeitsentwürfe, die er sich im Laufe der 157 Minuten imaginär anverwandeln kann: von heroisch aufrichtig bis faszinierend niederträchtig, von ergreifend fürsorglich bis beeindruckend unabhängig, von bewunderwert altruistisch bis schillernd selbstverliebt. Allein das macht diesen Film zum Erlebnis.
Dazu kommt die große Detailgenauigkeit, mit der Scott diese wahre Geschichte erzählt, basierend auf einem Artikel aus dem „New York Magazine“. Das ranzig-verfallene, gleichzeitig aber glittrig-glamouröse New York der siebziger Jahre − bekannt aus Filmen wie „The French Connection“, „Serpico“ oder „Cruising“ − ersteht vor unseren Augen wieder auf. Und man ahnt, warum es neben Richie Roberts noch einen viel härteren Hund bedurfte, der in dieser Stadt für law and order sorgte: Rudy Giuliani, demnächst vielleicht Präsidentschaftskandidat der Republikaner.