„Oben ist es still“/„Boven is het stil“ (2013) von Nanouk Leopold
Es ist noch dunkel im Schlafzimmer. Ein breitschultriger Mann, Ende fünfzig, kommt herein. Im Bett: ein gebrechlicher Alter mit schlohweißem Haar. Der Jüngere – Helmer lautet sein Name – umklammert den Alten. Widerwillig und ruppig hebt er ihn aus dem Bett und raunt ihm barsche Sätze zu. Der Alte ist Helmers kranker Vater, einst Herr über das Gehöft in der niederländischen Provinz, das er mit harter Hand führte, wie sich noch herausstellen wird. Helmer hievt den hüstelnden Mann unwirsch auf einen Stuhl. Packt ihn sich wie einen Sandsack über die Schulter. Schleppt ihn eine steile Treppe nach oben in ein karges Zimmer unterm Dach. Der Vater wird aus dem Weg geräumt, damit seine Klagen nicht mehr zu hören sind. Irgendwann, so hofft Helmer wohl, wird der Alte ganz verstummen. Dann ist es still dort oben. Ein für allemal.
So beginnt Nanouk Leopolds fünfter Spielfilm „Oben ist es still“. Kaum sechs Minuten sind zu diesem Zeitpunkt vergangen. Und doch sind wir bereits mittendrin im wortkargen Generationen-Konflikt, der diesen Film dominieren wird. Schon die erste Szene macht deutlich: Die Rotterdamer Regisseurin wird die Auseinandersetzung von Sohn und Vater über Berührungen, Gesten und Blicke erzählen – und nicht über Handlung und Dialoge. Entscheidende Dinge bleiben unausgesprochen und werden durch Gebärden lediglich angedeutet. Der Zuschauer muss also auf der Hut sein. Wenn gegen Ende die Kamera auf die faltige Hand des Vaters und Helmers sanft-neugieriges Darüberstreichen fokussiert, dann liegt in dieser Geste fast schon ein Happy End verborgen.
Überhaupt: die Körper. „Oben ist es still“ ist auch eine sehr genau beobachtete Studie über Männer und ihre Körper: ihre Nacktheit, ihre trostlose Härte zu sich selbst, ihr stummes Verlangen, ihre dumme Sprachlosigkeit und ihre schleichende Vergänglichkeit. Vier Männer-Generationen führt uns die Regisseurin vor Augen, von den fidelen Nachbarsjungen und dem drahtigen Knecht über den rundlich-weichen Milchmann bis zum verlebten Vater. Im Mittelpunkt aber steht der Bauer Helmer, vom großen niederländischen Darsteller Jeroen Willems mit stiller Intensität gespielt. Willems ist im Dezember zwei Monate vor der Berlinale-Premiere unerwartet gestorben, was diesem aufwühlenden Film eine zusätzliche emotionale Note verleiht.
Die 44-jährige Nanouk Leopold gilt neben Alex van Warmerdam, dessen neuer Film „Borgman“ gerade im Wettbewerb von Cannes zu sehen war, als die zentrale Figur im niederländischen Gegenwartskino. Ihre Filme „Guernsey“ (2005), „Wolfsbergen“ (2007) und „Brownian Movement“ (2010) mit Sandra Hüller liefen in Nebenreihen von Cannes und der Berlinale. Es sind stark stilisierte, stilsichere Familiengeschichten, durchweht von einem Hauch europäischen Kunstkinos à la Antonioni oder Bresson, dabei den Vertretern der Berliner Schule nahekommend: exakt komponierte, statische Einstellungen, elliptische Erzählungen mit offenen Enden, stark zurückgenommen agierende Darsteller. Mit „Oben ist es still“ schlägt sie eine neue Richtung ein. Stand in den vorherigen Filmen eine unterkühlte urbane Mittelschicht im Zentrum, zieht es sie erstmals in die niederländische Provinz, auf einen Bauernhof im südlichen Zeeland. Lag der Schwerpunkt bislang auf den Frauenfiguren, geht es hier um Männer. Die Kamera löst sich aus ihrer distanzierten Statik und drängt heran an die Körper. Statt geometrischem Bildaufbau geht es nun um taktile Nähe. Und: Hatte Leopold zuvor ihre Stoffe selbst entwickelt, greift sie mit Gerbrand Bakkers Roman nun auf eine vielgelobte Vorlage zurück (auf Deutsch 2008 bei Suhrkamp erschienen).
Dabei streicht Leopold furchtlos wichtige Motive des Romans zusammen. Der traumatische Verlust von Helmers verehrtem Zwillingsbruder, der die 316 Seiten der Vorlage durchzieht, wird im Film nicht einmal erwähnt. Dient Dänemark für Helmer im Buch als befreiender Sehnsuchtsort, bleibt der Film beinahe völlig auf das Hier und Jetzt des Hofes beschränkt (gedreht wurde auf mehreren Gehöften in den Niederlanden und Deutschland). Stattdessen macht Leopold einen gewagten Schritt: Sie hebt Helmers schwules Verlangen hervor, das im Roman allenfalls als Möglichkeit aufscheint. Immer wieder sieht man Helmer verstohlen und in stillem Begehren durch Fensterrahmen anderen Männern hinterher blicken. Dadurch verzerrt sie den Roman jedoch nicht, sondern spitzt ein zentrales Thema zu: das Problem der existenziellen Einsamkeit (Bakkers Buch endet mit Helmers Worten „Ich bin allein.“) Dabei bleibt der Roman trotz aller Kürzungen und Umdeutungen auf beinahe magische Weise intakt. Mehr noch: Leopolds Verfilmung verdichtet die Vorlage und macht die grau-kalte Provinzatmosphäre beinahe physisch greifbar. So könnte sie aussehen: eine exemplarische Literaturverfilmung.