„Chihiros Reise ins Zauberland“ (2001) von Hayao Miyazaki
Ein trauriger Ort, trostlos und verlassen. Ein Vergnügungspark aus den neunziger Jahren, stillgelegt wegen der Wirtschaftskrise. Doch des nachts wird dieser Ort bevölkert von irrealen Kreaturen, heimgesucht von überirdischen Wesen, die hier werkeln und schuften. Wer in diese Welt eindringt, muss sich wundern. Und hüten. Es ist die Welt hinter dem Tunnel.
Durch ihn schreitet das kleine Mädchen Chihiro, wie Alice, ins Wunderland. Sie folgt ihren Eltern, die ja ach so gierig und neugierig sind. (Der Vater fährt nicht nur einen dicken Audi, sondern schiebt auch einen dicken Bauch vor sich her.) Eigentlich geht Chihiro nur unwillig hinterher ― so unwillig wie sie den Umzug aus Tokio mitgemacht hat. Die Familie ist in ein Städtchen auf dem Land gezogen, weit weg von Chihiros Freunden. Doch der Vater hat sich verfahren und dabei diesen Tunnel entdeckt, hinter dem er jetzt ein üppiges Gastmahl wittert.
Ein Fehler. Denn bald darauf wacht er als Schwein wieder auf. In Japan sind die fetten Jahre nun mal vorbei.
Ein toter Vergnügungspark, in dem jetzt das Prinzip Arbeit herrscht; unersättliche Eltern, die bitter bestraft dafür werden ― durch Hayao Miyazakis Zeichentrickgeschichte hallt anfangs das Echo der japanischen Gegenwart; der Gegenwart des bedrohten Wohlstands, der lähmenden Depression mit steigender Arbeitslosigkeit und des gierigen Mittelstandes. Doch je weiter sich der Film in das Labyrinth seiner Geschichte hineinwagt, desto weniger Ausblick gibt er auf die reale Welt von Heute. Die Handlung verzweigt sich im Phantasmagorischen, rennt dabei frohgemut in narrative Sackgassen und sehnt sich zusehends nach den Weiten der japanischen Mythologie ― was uns immer staunend, aber manchmal auch ratlos zurück lässt.
In diesem mythologisch inspirierten Reich führt die Hexe Yububa (synchronisiert von Nina Hagen) ein gestrenges Regiment. Wer nicht arbeitet, wird in ein Tier verwandelt. Gleichzeitig darf keiner keinem die Arbeit klauen. Übelriechende Flussgötter stapfen herum. Durch die Luft flattern Krähen mit Gesichtern von verschrumpelten Weibern. Trampelige Riesenbabies; Knautschratten, die stricken; hüpfende Grünköpfe; triefende, schleimende und kotzende Alptraumviecher… Das alles und noch viel mehr. Nur Menschen sind unerwünschte Asylbewerber hier.
Chihiro dringt dennoch ein in die fremde Welt: Sie kämpft um die Rückverwandlung ihrer schweingewordenen Eltern. Menschenskinder, immer diese Menschenkinder!
Wer gezeichnete Geschichten konsumiert ― ob in Form von Comic- und Manga-Heften oder filmischen Cartoons und Animes ― bekommt dafür in Deutschland viel weniger kulturelles Kapital zurückbezahlt als in Amerika oder Japan. Doch selbst der größte Hochkultur-Snob muss einräumen, dass Miyazakis Filme ein Füllhorn an phantastischen Einfällen ausschütten und seine Zeichnungen handwerklich umwerfend sind. In einer Szene imitiert er (augenzwinkernd?) die Unzulänglichkeiten der Filmkamera: Gegenstände im Vordergrund sind verschwommen, der Mittelgrund dagegen ist scharf. Anders herum muss auch der größte Miyazaki-Fan zugeben, dass die illusionäre Wucht, die Action und die drängende Problematik des Vorgängerfilms diesmal nicht erreicht werden: „Prinzessin Mononoke“ bleibt der beeindruckendste Animationsfilm der letzten Jahre. „Chihiros Reise ins Zauberland“ dagegen ist ein verspielter, spielerischer Film.
Ein Kinderspielzeug ist er nicht. In diesem Erwachsenenmärchen geht es um den Verlust von Heimat und Identität, um die Selbstbehauptung in der Ferne und das Verstehen des Fremden. Wer Miyazakis Film, der 2002 den Goldenen Bären gewann, als Gutenachtgeschichte abtut, macht den gleichen Fehler wie einst die Kritiker, die „Huckleberry Finn“ oder „Alice im Wunderland“ ins Jugendbuchregal einsortierten.