Mr. Reitman, beginnen wir ganz am Anfang von „Up in the Air“: bei der Titelsequenz. Wie in allen Ihren Filmen ist sie sehr ungewöhnlich und aufwändig.
Die Titelsequenz sollte aussehen wie eine Collage aus beweglichen Postkarten. Wir reisen durch diese Postkarten-Welt und sehen dabei die Erde wie die Hauptfigur Ryan Bingham: aus 8000 Metern Höhe. Ryan sieht auf diese Art das gesamte Land – aber tatsächlich sieht er nie eine der Städte, die er bereist. Er war in praktisch allen Städten Amerikas, aber er könnte uns nichts über sie erzählen. Er sieht die Welt nur aus der Höhe, im Flughafen, im Hotel und aus dem Mietwagen heraus.
Dazu hören wir Woody Guthries Folk-Klassiker „This Land Is Your Land“. Ein ironischer Kommentar: Wenn Bingham so abgehoben und distanziert ist, wie kann dann das Land seines sein?
Genau. Außerdem war „This Land Is Your Land“ eine Art Arbeiterlied, als es geschrieben wurde. Darin liegt eine zusätzliche Ironie. Ich mag Titelsequenzen aber vor allem deshalb, weil sie den Zuschauer aus der realen Welt herauslösen. Heutzutage wird so viel Werbung vor dem Film gezeigt, vor allem hier in Deutschland. Ich war gestern am Potsdamer Platz im Kino – und es gab fast eine Stunde Werbung (lacht).
Ähnlich wie die früheren Protagonisten Ihrer Filme handelt Ryan Bingham moralisch fragwürdig, ist aber zugleich sehr, sehr charismatisch.
Ich fühle mich zu kniffligen Figuren hingezogen: ob es eine schwangere Teenagerin ist wie in „Juno“, ein Tabak-Lobbyist wie in „Thank You for Smoking“ oder eben ein Mann wie Ryan, der seinen Lebensunterhalt damit finanziert, dass er Leute feuert. Ich finde es viel interessanter, diese Figuren menschlich erscheinen zu lassen, als Geschichten über normale Menschen zu erzählen.
Gibt es tatsächlich Leute, die nur für das Entlassen von Mitarbeitern angeheuert und eingeflogen werden?
Ja, wegen der vielen Rechtsklagen existieren in Amerika Firmen, die das professionell übernehmen. Meine Frau wurde auf diese Art entlassen.
Die vielen Entlassungsszenen wirken sehr authentisch.
Die Leute, die wir dabei zeigen, sind keine Schauspieler – es sind Menschen, die tatsächlich ihren Arbeitsplatz verloren haben. Als ich mich 2002/2003 das erste Mal an das Drehbuch setzte, ging es der Wirtschaft ziemlich gut. Ich schrieb den Film damals als Unternehmenssatire. Als es jedoch daran ging, den Film zu drehen, hatte sich die Welt verändert. Deshalb wollte ich die Leute, die gefeuert werden, authentisch zeigen. Wir inserierten in der Zeitung, dass wir einen Dokumentarfilm über Arbeitsplatzverlust planen. Von den Leuten, die sich bewarben, sind letztlich 25 im Film gelandet. Wir haben sie 10 Minuten interviewt und ihnen dann gesagt, wir würden sie jetzt vor der laufenden Kamera noch mal feuern. Da ihre Emotionen noch so nah an der Oberfläche lagen, war es sehr einfach für sie, authentisch bewegt zu sein. Eine Frau hatte ihren Job erst eine Woche zuvor verloren.
Ist Ihr Film eine Kritik dieses inhumanen Outsourcings?
Ich halte Unternehmen nicht für moralisch rechenschaftspflichtig. Ich sehe den Film daher nicht als Kritik an der Industrie oder der Wirtschaft. Das wäre Zeitverschwendung. Für mich handelt „Up in the Air“ vom Verlust menschlicher Bindungen. Dazu haben auch die neuen Technologien beigetragen: Sie bringen uns dazu, zu glauben, dass wir uns gegenseitig nahe sind – was nicht stimmt. Wir haben 1000 Freunde auf „Facebook“, aber es gibt nur wenige Menschen, denen wir tatsächlich in die Augen schauen. Wir schreiben uns SMS, aber wir reden nicht miteinander. Mit mir hat mal eine Freundin per Email Schluss gemacht.
Wenn uns diese Technologien voneinander distanzieren, warum verwenden wir sie dann?
Weil wir glauben, sie bringen uns näher zusammen. Und weil sie so einfach sind: Leute tun gewöhnlich Dinge, die den geringsten Aufwand erfordern.
Kann man den Film also als Weckruf verstehen?
Nein, das ist nicht meine Aufgabe. Ich will Menschen nicht zu irgendetwas motivieren, sondern nur emotional bewegen. Mich machen Regisseure wütend, die mir erzählen, was ich zu denken habe – wie Michael Moore oder Michael Mann mit „The Insider“. Die Zuschauer sollen selbst denken.
Dennoch greifen sie immer wieder auf gewichtige gesellschaftliche Themen zurück: Teenager-Schwangerschaft, die Verbindung von Lobbyismus und Demokratie, Individualisierung und Bindungslosigkeit.
Mich frustriert, dass diese Themen immer nur schwarzweiß gesehen werden. Ich will Filme machen, die diese Motive in Grau darstellen. Mich faszinieren Stoffe, bei denen Leute immer schon zu wissen glauben: Das ist die richtige Antwort und das ist die falsche. Ich bin erst 32 Jahre alt, aber in dieser Zeit habe ich eines herausgefunden: Das Leben ist unendlich kompliziert und es gibt keine einfachen Antworten.
Der Film betrachtet Ryan Bingham als oberflächlich und zu wenig verwurzelt. Ganz ehrlich: Gleicht das Leben eines erfolgreichen Regisseurs nicht ein wenig der Existenz von Ryan Bingham?
Ryan Binghams Leben ist gar nicht so oberflächlich. Es hat sogar etwas Aufregendes: ständig unterwegs zu sein, jeden Tag eine neue Stadt zu sehen. Ich halte es als Regisseur für falsch, moralisch darüber zu richten, wie sich jemand entscheidet, sein Leben zu führen. Aber es ist richtig: Mein Leben ist durchaus ähnlich. Deshalb war es sehr einfach für mich, das Drehbuch zu schreiben.
Der Titel „Up in the Air“ erinnert an „On the Road“. Doch während Jack Kerouacs Beat-Generation-Klassiker das Unterwegssein mit Freiheit gleichsetzt, scheint Ryan Bingham gefangen in seinem beschränkten, habitualisierten Leben – bis er bekehrt wird und andere Werte erkennt.
Die Hälfte des Publikums mag den Film als Kritik an Ryan Binghams Leben sehen. Die andere Hälfte empfindet aber vielleicht gerade Vergnügen an seinen Alltagsroutinen, weil es Ähnlichkeiten zum eigenen Leben erkennt. Zudem muss etwas Neues zu entdecken nicht heißen, das Alte war falsch. Ryan realisiert schlicht: Menschliche Bindungen sind nicht nur Gewicht, das man sich auflädt – sie haben einen besonderen Wert.