„Mad Men“ (2007) von Matthew Weiner
Es ist nur eine kurze Szene am Ende der dritten Folge. Doch in dieser Szene verdichtet sich prägnant, warum diese Serie so erfolgreich ist. Bei einem Kindergeburtstag tollt ein Junge durch das imposante Vorstadt-Haus der Gastgeberfamilie. Dabei stößt er ein Glas Wasser zu Boden. Ein Mann tritt hinzu, verpasst ihm eine Ohrfeige und tadelt ihn. Man wundert sich noch über die harschen Erziehungsmethoden der Eltern zur damaligen Zeit, den frühen sechziger Jahren, als plötzlich der wirkliche Vater dazukommt. Er fragt, was los sei. Nachdem ihn der andere Mann aufgeklärt hat, geht er selbst dazu über, seinen Sohn zu schimpfen und ihm Prügel anzudrohen. Danach schickt er den Sprössling fort mit den Worten: „Deine Mutter soll das hier wegmachen.“
Wie bitte? Man stelle sich diese Szene an einem Spielplatz in Prenzlauer Berg vor – und schlagartig wird klar, welche mentalitätsgeschichtliche Wegstrecke wir seit den frühen sechziger Jahren zurückgelegt haben. Selbstverständlich ist „Mad Men“, diese preisgekrönte Serie über eine erfolgreiche New Yorker Werbeagentur, hervorragend gespielt. Natürlich ist sie exquisit in Szene gesetzt, mit stilvollem Setdesign und Kostümen, mit eleganten Bildkompositionen und Kamerabewegungen. Und wer würde abstreiten, dass auch die pointierten Dialoge und die anspruchsvollen Figurencharakterisierungen zum Vergnügen an dieser Serie beitragen? Doch es ist vor allem das erschrockene – nicht selten auch belustigte – Staunen über längst untergegangene Verhaltensformen, Sitten und Konventionen, das dem Zuschauer seinen besonderen Lustgewinn verschafft. Denn der Kontrast zur Vergangenheit erlaubt ihm eine besondere Form der Selbstbestätigung: Durch die detailgenaue Rekonstruktion der nahen und doch so fernen Lebenswelt der Sechziger versichert uns „Mad Men“ stets aufs Neue, dass der seitdem eingeschlagene Weg der richtige war. Fast immer zumindest.
Schon der 35-sekündige-Vorspann ist ein Miniatur-Kunststück, das diesen Wandel der Werte und Verhaltensformen symbolisch vorwegnimmt. Im Scherenschnitt-Stil zeigt er einen Angestellten-Jedermann mit schwarzem Anzug, der morgens in sein Büro kommt, den Aktenkoffer abstellt und dann seine Welt vor sich zusammenbrechen sieht. Er stürzt aus dem Fenster, vorbei an wolkenkratzerhohen Reklameflächen. Auf ihnen stehen Sprüche, die man in dieser Situation nur ironisch interpretieren kann: „Enjoy the best America has to offer“. Dieser Fall ist ein Höllensturz, wie ihn einst Saul Bass für den Anfang von Martin Scorseses „Casino“ entworfen hat. Man ahnt: Beim Aufprall könnte der amerikanische Traum der frühen sechziger Jahre ein böses Erwachen haben. Und damit ist eben auch das Ende einer bestimmten Lebensform gemeint: die scheinbar selbstverständliche Dominanz der weißen, republikanischen Männer aus der Mittelschicht der Nachkriegszeit.
Was die eingangs beschriebene Szene für den Wandel in der Kindeserziehung veranschaulicht, exerziert „Mad Men“ im Laufe seiner drei Staffeln anhand zahlreicher anderer Gesellschaftsbereiche durch. Das gilt für den alltäglichen Antisemitismus und Rassismus: Über Juden wird im Büro immerhin gemunkelt, während die schwarzen Liftboys meist nicht mal ignoriert werden. Das gilt auch für die Umweltverschmutzung: Als die Hauptfigur der Serie, Donald Draper (Jon Hamm), einmal mit seiner Familie ein Picknick macht, sieht man ihn eine Bierdose in die Natur schleudern und beim Aufbruch den gesamten Müll zurücklassen. Und das gilt vor allem für den breit ausgestellten Sexismus: Nach dem Prinzip der getrennten Sphären sorgt Drapers patente Gattin Betty (January Jones) für das perfekte Heim, während ihr Mann im Beruf Erfolge feiert. Nach Büroschluss schlüpft er dann gerne bei fremden Gespielinnen unter.
„Mad Men“: Schon der Titel hebt mit einem cleveren Wortspiel hervor, dass sich die Serie in einem männerdominierten Kosmos bewegt. Die Kerle aus der Werbebranche (die „ad men“) residieren in der New Yorker Madison Avenue (die „Mad Ave“) und bezeichnen sich selbst als Verrückte („mad men“). Sogar im Büro schütten sie Unmengen an Alkohol in sich hinein. Es gibt kaum eine Szene, in der nicht geraucht wird. Und die Sekretärinnen sind williges Freiwild. Wie sang James Brown in den Sechzigern? „It’s a Man’s, Man’s, Man’s World“. Allerdings gibt es da noch die aufstrebende Peggy Olson (Elisabeth Moss), die zusehends ihren Mann steht. Die kurvenreiche und spitzzüngige Chefsekretärin Joan Holloway (Christina Hendricks) – eine Frau, für die das Wort bomb shell geradezu erfunden scheint – behauptet sich ebenfalls auf ihre Weise. Und irgendwann beginnt auch Betty Draper, an den Stäben ihres goldenen Käfigs zu rütteln. Als wüsste Don Draper um den folgenschweren Wandel seiner Zeit, sieht man ihn am Ende zahlloser Folgen ernst an seiner Zigarette ziehen – und nachdenklich in die Ferne blicken.
Donald, Betty, Peggy: Die Namen erinnern an Comicfiguren. Und in gewisser Weise wirken die Charaktere ja auch wie Menschen aus einem fremden Universum. Es ist eine Welt, in der die ersten Bürokopierer aufkommen, in der Jugendliche keinen Kaffee trinken, in der die weiblichen Idole Jackie Kennedy und Marilyn Monroe heißen. Dennoch schafft es der Serienerfinder Matthew Weiner, uns das Schicksal seiner Figuren nahe gehen zu lassen. Im besten Fall geben ihre antiquierten Sitten und Gebräuche sogar Anlass, über uns selbst nachzudenken. Denn: Wenn in fünfzig Jahren noch Fernsehen geschaut wird, könnte unsere Zeit der Grund für Erstaunen und Belustigung sein.