„Millions“ von Danny Boyle (2004)
Der Regisseur Danny Boyle wurde bekannt mit einem Film, in dem es um die Entsorgung von Leichenteilen ging. Auf diese tiefschwarze Komödie mit Namen „Kleine Morde unter Freunden“ folgte „Trainspotting“, zu dessen einprägsamsten Szenen gehört, wie ein Drogenabhängiger menschliche Exkremente am Frühstückstisch verspritzt. Zuletzt wurde Boyle durch den Horrorfilm „28 Days Later“ auffällig. Darin machen sich lebende Tote über die Menschheit her. Welche Grausamkeiten könnten so einen Regisseur noch reizen? Die Antwort liegt nahe: ein Kinderfilm.
Nicht irgendeinen Kinderfilm, sondern einer, der so verspielt und niedlich ist, dass einem auch hier das Grauen kommt.
In „Millions“ erzählt Boyle von den Brüdern Damian (Alex Etel) und Anthony (Lewis McGibbon), die mit ihrem Vater (James Nesbitt) in eine neu errichtete Vorortsiedlung ziehen. Die beiden Jungen sind von so pausbackiger Putzigkeit, dass im Vergleich mit ihnen Jim Knopf oder der kleine Lord Fauntleroy wie üble Gremlins wirken. Leider ist den Buben vor kurzem die Mutter abhanden gekommen. Deshalb suchen sie Zuflucht bei den Unterwäschemodels im Internet. Oder sie phantasieren sich geheime Treffen mit Heiligen zusammen. Eines Tages jedoch fällt eine Tasche voller Geld vom Himmel: hunderttausende von Pfund, die schleunigst ausgegeben werden müssen, schließlich spielt die Handlung kurz vor dem britischen Beitritt zum Euro-Land (was „Millions“ zu einem Science-Fiction-Film macht, der in fernster Zukunft angesiedelt ist). Anthony versucht sinnvoll zu investieren. Damian dagegen will das Geld an die Armen verteilen. Leider tun sich in seiner freundlichen Vorstadtwelt keine sozialen Abgründe auf. Weshalb der Film am Ende auf die Elenden und Verdammten Afrikas zurückgreifen muss: In Großbritannien haben sich Armut und Verwahrlosung offensichtlich in Luft aufgelöst.
Wie sich die Zeiten ändern! Im Jahr 1996 krabbelten bei Danny Boyle noch tote Babys an der Zimmerdecke und in der „hässlichsten Toilette Schottlands“ versanken die Junkies im Dreck. „Trainspotting“ konnte man ohne größere Anstrengung als schmutzige Abrechnung mit dem thatcheristischen Tory-Großbritannien unter John Major verstehen. Eine Farce, zum Totlachen. Nun, im Jahr 2005, fliegt das Geld buchstäblich durch die Luft und zwar soviel davon, dass die Jungs Probleme mit dem Ausgeben bekommen. Der urbane Alptraum ist einer suburbanen Tagträumerei gewichen. Die abgefuckten Junkies aus Edinburgh haben sich in nordenglische Sommersprösslinge verwandelt. Und die Beschaffungskriminalität hat der vorweihnachtlichen Konsumentenwelt Platz gemacht: süßer die Kassen nie klingen. In Interviews betont Boyle gerne, dass er das sozialrealistische Kino von Ken Loach nicht leiden könne – eine Art von Film, der er einst gar nicht so fern stand. Betrachtet man „Millions“ durch die Brille von „Trainspotting“, sieht man eine Feier des Blairschen New-Labour-Englands. Ein Feel-Good-Märchen, zum Schmunzeln.
Und: zum Augenreiben. Denn bekanntlich liebt Danny Boyle filmische Spielereien. Er dreht aus spitzen Winkeln. Szenen gehen durch Kreis- oder Wischblenden ineinander über. Ein Haus schießt im Zeitraffer aus dem Boden. Und in den ersten zwanzig Minuten meint man, Boyle wolle partout in jede Einstellung die Farbe rot hineinschmuggeln: Knallig und nicht angekränkelt von eines Gedankens Blässe werden rote Züge, Cola-Automaten, Gummibälle und Abfalltonnen im Bild platziert. Nur mit viel Großzügigkeit lässt sich dieses Überflusskino der kindlichen Imagination von Damian und Anthony in die Schuhe schieben. Vielmehr drängt sich der Eindruck auf, dass der Danny Boyle von „Millions“ für ein Kino steht, dessen erste ästhetische Überzeugung „Mehr ist mehr“ lautet und in dem die filmische Form keiner Funktion zu folgen braucht. Das verbindet „Millions“ mit den Einfallsexzessen Jean-Pierre Jeunets, Tim Burtons und Wes Andersons. Was Boyle dabei übersieht: Beim Zuschauer entsteht immer dann die größte Leere, wenn alles zugebaut ist – mit bedeutungsarmen Ticks, Tricks und Soundtracks.