Mr. Haggis, Ihr Film reiht sich ein in eine Tradition anti-utopischer Visionen von Los Angeles, die vom Film Noir über „Blade Runner“ bis zu den düsteren Schriften des Urbanisten Mike Davis reicht. Los Angeles ist eine sonnige Stadt. Woher kommen all diese dunklen Bilder?
Ich habe das Drehbuch deshalb in Los Angeles angesiedelt, gerade weil alles so nett aussieht. Was mich fasziniert, sind die Dinge unter der Oberfläche. Wenn man in die Südstaaten hinunterfährt, ist die Intoleranz viel offensichtlicher. In Los Angeles gibt jeder vor, gut miteinander auszukommen. Tatsächlich fliehen wir alle voreinander und haben uns selbst segregiert. Wir ziehen dahin, wo sich jeder sicher fühlt, weil alle aus derselben sozialen Schicht und der – überwiegend – gleichen ethnischen Struktur kommen. Trotzdem verschließen wir auch noch unsere Türen. Wir besorgen uns Alarmanlagen. Wir errichten Zäune. Wir ziehen weiter in überwachte Nachbarschaften. Und auch dann fühlen wir uns noch nicht sicher.
Was ist der Grund für diese Verunsicherung?
Wenn du in New York, Philadelphia oder Chicago lebst, stößt du jeden Tag auf Leute anderer Klassen- und Rassenzugehörigkeit. Das fördert die Toleranz. Man mag Vorurteile über Araber haben, doch dann kauft man bei einem von ihnen seine Zeitung und der sagt etwas Nettes… Das ist etwas anderes, als das Leben im suburbanisierten Amerika, wo es immer häufiger vorkommt, dass man keinem Fremden mehr begegnet. Und Los Angeles ist ein einziges, riesiges Suburbia. Natürlich fühlen wir uns alle wohler mit Leuten, die aussehen, reden, sich kleiden wie wir. Das betrifft nicht nur das weiße Amerika. Wenn koreanische Immigranten nach Los Angeles kommen, ziehen sie nach Koreatown; Vietnamesen gehen nach Little Saigon. Das war immer so. Nur in New York lagen Chinatown und Little Italy so nahe beieinander, dass sich die Leute begegnen mussten. In Amerika spürt man heute an jeder Straßenecke die Angst. Und die Medien füttern unsere Ängste zusätzlich.
…die Kultur-der-Angst-These, die auch Michael Moore in „Bowling for Columbine“ vertritt…
…genau. Dabei haben wir alle ein großes Bedürfnis, uns Schulter an Schulter mit anderen Menschen zu reiben. In Los Angeles stehen dafür nur ein paar wenige Straßenblöcke zur Verfügung. So etwas wie den New Yorker Central Park gibt es nicht. Das ist einer der Gründe, warum ich nach Paris ziehen möchte. Ich liebe meine Arbeit, das Klima, die Leute in Los Angeles. Aber mir fehlen die Berührungen mit anderen.
Worauf ist dieser Mangel an öffentlichem Raum zurückzuführen?
Das war eine Entscheidung, die im 19. Jahrhundert getroffen wurde. Wir haben es damals für wichtiger gehalten, die Stadt profitabel für Immobilienentwickler zu machen, als daraus einen menschlichen Ort zum Wohnen zu formen. In anderen, früher entstandenen amerikanischen Städten waren die Leute gezwungen, enger zusammenzuleben, weil die Städte vertikal und nicht horizontal angelegt waren. Ich glaube, diese Struktur ist viel gesünder. Entscheidend sind darüber hinaus zwei Erfindungen: das Auto und das Fernsehen. Diese Dinge haben uns zusätzlich auseinander gebracht. Das Auto erlaubte es uns, immer weiter wegzuziehen.
In seiner klassischen Studie „Los Angeles: The Architecture of Four Ecologies“ spricht der Architekturkritiker Reyner Banham dagegen vom demokratischen Charakter des Freeways, der Stadtautobahn, und nennt L.A. eine „Autopie“. Einverstanden?
(lacht) Nein, denn wäre das wahr, warum gibt es dann so viele Schießereien auf dem Freeway? Autopie ist eine Utopie für Autos – nicht für Menschen. Wenn wir hinter Stahl und Glas stecken, fühlen wir einfach anders. Man wähnt sich in einem Kokon und glaubt, man habe sein eigenes Kontrollgebiet. Dadurch isoliert man sich automatisch. Aber Menschen lernen nur durch Interaktion mit anderen Menschen. Im Auto sagen wir Dinge zu einander, die wir niemals sagen würden, liefen wir nebeneinander. Deshalb gibt es ja so viele Fälle von Verkehrsrowdytum – Bürgersteig-Rowdys existieren nicht.
Sie erwähnten als zweiten Punkt das Fernsehen. Was ist schlecht daran?
Ich liebe das Fernsehen und habe jahrelang dafür gearbeitet. Das Fernsehen ist an sich nicht das Problem. Auch die Gewalt nicht. Ich habe als Kind sehr viel Gewalt gesehen – zum Beispiel in den Horrorfilmen mit Vincent Price – und bin trotzdem kein gewalttätiger Mensch geworden. Das eigentliche Problem ist die Menge, die sich die Leute ansehen. Das Fernsehen ist eine Einbahnstraßen-Kommunikation: Du nimmst auf, aber du musst dich mit niemandem auseinandersetzen. Deshalb würde sich jemand, den man täglich acht Stunden vor die „Sesamstraße“ setzte, auf Dauer zu einem asozialen Menschen entwickeln.
Aus all dem hört man einen traurigen Unterton heraus, der auch in Ihrem Film zu vernehmen ist: die Klage über den Verlust von Gemeinschaft.
Das stimmt. Ich bin in einer relativ kleinen Vorstadt-Gemeinde in Kanada aufgewachsen.
Kann es sein, dass Sie L.A. noch immer mit dieser kanadischen Sensibilität betrachten?
Ich glaube, ja – obwohl ich seit beinahe 30 Jahren in Los Angeles lebe.
Der große afroamerikanische Intellektuelle W.E.B. DuBois prophezeite vor über hundert Jahren: „Das Problem des 20. Jahrhunderts ist das der Rassentrennung.“ Sieht man Ihren Film, scheint das erst recht für das 21. Jahrhundert zu gelten.
Wenn du einen Amerikaner wütend machen willst, sag ihm, dass es ein Rassismusproblem gibt. Willst Du ihn ausflippen lassen, sag ihm, dass es ein Klassenproblem gibt. Wir sind sehr genügsam geworden in Amerika, insbesondere wir Linksliberalen. Seit dem 11. September hat sich unser Fokus darüber hinaus auf diesen idiotischen „Krieg gegen den Terror“ verschoben. Das Problem liegt jetzt da draußen, nicht mehr im inneren. Deshalb bricht gerade unser Sozialstruktur zusammen: die Krankenhäuser, die Schulen, das Gesundheitssystem.
Sie haben vorhin die Fragmentierung von Los Angeles in ethnische Viertel angedeutet. Sieht so die Zukunft zwischen den Ethnien und Rassen in Amerika aus? Vom melting pot, dem Schmelztiegel, kann da keine Rede mehr sein.
In Los Angeles verschmilzt gar nichts. Trotzdem bin ich hoffnungsfroh. Von den 50er Jahren an bis in die 80er Jahre tendierten die Leute dazu, sich in die Vororte auszubreiten. Seitdem werden die Innenstädte wieder zurückgefordert. Und die Leute ziehen nicht nur deshalb zurück, weil die Grundstückspreise niedrig sind – die nächsten Generationen suchen einander wieder.