„Die Zeit ist längst stehengeblieben. Der Rest ist Warten aufs Alter.” So lautet das bittere Motto von Yaojun (Wang Jingchun) und seiner Frau Liyun (Yong Mei). Mitte der achtziger Jahre arbeiten sie in einer Fabrik im Norden Chinas, wo sie aus Lautsprechern mit Propaganda beschallt werden: Vaterlandsliebe wird gefordert, Hingabe zur Partei diktiert. Ausgelassen feiern dürfen sie nur leise – die Ohren der Nachbarn im engen Mehrfamilienhaus könnten mithören. Als Liyun ein zweites Mal schwanger wird, entkommt sie dem eisernen Griff der Partei freilich nicht: Ihre beste Freundin Haiyan (Ai Liya), die standfeste Zinnsoldatin vom Planungsbüro, drängt zur Abtreibung. Die Ein-Kind-Politik der kommunistischen Führung lässt es nicht anders zu.
Dieser blutige Schwangerschaftsabbruch – er wird nicht der einzige Verlust des Paares bleiben. Um ihrer Trauer irgendwie Herr zu werden, flüchten Yaojun und Liyun in ein entferntes Küstenstädtchen in der Fujian-Provinz, unten im Südosten. Es ist eine Gegend, deren Dialekt sie nicht verstehen und deren Entwicklung einem gemächlicheren Rhythmus gehorcht als der furiose Trommelwirbel ihrer Heimat, der alle Traditionen übertönt und alles und jeden zum strammen Gang in die Zukunft treibt. „Das Leben hier hat nichts mit uns zu tun”, sagt Yaojun erleichtert. Doch natürlich entkommen sie auch dort der Vergangenheit nicht.
Das Melodram – und „So Long, My Son“ ist ein berührendes, nie sentimentales Melodram – lebt von unerwarteten Verstrickungen und Enthüllungen unerhörter Begebenheiten. Diese hier zu verraten, würde den Film entkernen und ihn seiner emotionalen Effekte berauben. Deshalb nur soviel: Mit großer Sensibilität wirft der 53-jährige Regisseur Wang Xiaoshuai („Beijing Bicycle“), einer der Protagonisten des Kinos der Sechsten Generation, die Fragen auf, wie weiterleben kann, wer Kinder verloren hat, und wie diejenigen damit zurechtkommen, die sich dafür verantwortlich fühlen. Es wäre einen Versuch wert, „So Long, My Son“ neben ein anderes jüngeres Meisterwerk über den Tod der eigenen Kinder zu stellen, Kenneth Lonergans „Manchester by the Sea” (2016). Dabei könnte man einiges darüber lernen, wie sich Trauergesänge in sehr unterschiedlichen Tonarten anstimmen lassen.
Wang und sein thailändischer Cutter Lee Chatametikool wählen für ihre Erzählung die Form einer Springprozession: Leichtfüßig hüpfen sie vor und zurück in der Zeit, springen vom Jahr 1994 in die 80er Jahre oder nach vorn ins Jahr 2011. Dieses beständige Hin-und-Her dynamisiert die Handlung und lässt, anders als ein linearer Plot, die Gegensätze aufeinander prallen. Für den Zuschauer hält dies die nicht ganz triviale Herausforderung parat, dass er die Szenen wie in einem 1000-Teile-Puzzle zu einem Bild zusammenfügen muss. Weil viele Dinge nicht lautstark durchdekliniert sondern nur leise angedeutet werden, weil Wang Ellipsen einstreut und die Dialoge oft lakonisch hält, kann man „So Long, My Son“ getrost als das Gegenteil von kulturindustrieller Unterforderung bezeichnen. Die 180 Minuten Länge tun ein Übriges, um die markgerechten Normen zu unterlaufen.
Nichts wäre jedoch verfehlter, als diesen still-traurigen Versuch über das Nicht-Vergessen-Können und die Widerspenstigkeit der Vergangenheit als sperrig und selbstgefällig abzutun. Im Gegenteil: Der Film lebt von einer unaufdringlichen Kunstfertigkeit, deren Virtuosentum sich vielleicht erst beim zweiten oder dritten Sehen erschließt. Wang arbeitet sanft mit motivischen Wiederholungen und musikalischen Leitmotiven wie Mozarts „Rondo alla Turca“ und dem melancholischen Abschiedslied „Auld Lang Syne”. In den grün- und blaustichigen Bildern seines koreanischen Kameramanns Kim Hyun-seok sind die Farben dezent aufeinander abgestimmt. Breite Panorama-Einstellungen und beengte Interieurs wechseln sich ebenso ab wie bedächtige Schwenks und eine leicht verwackelte Handkamera. Nicht zuletzt setzt Wang auf subtile Zeichen populärkulturellen Wandels: Im Jahr 1986 ist das Hören von Boney M. noch verboten, während acht Jahre später der Mickey-Maus-Rücksack des Kindes schon erlaubt scheint.
Seit den Anfängen der Filmgeschichte – spätestens aber seit D.W. Griffiths „The Birth of a Nation“ (1915) – sucht das Melodram die Nähe zum Historienfilm. Auch Wang Xiaoshuai flicht private Passion und Geschichte der Nation ineinander. Anders als dem gemeinen Historienfilmer gelingt ihm aber, was man in Anlehnung an Roland Barthes’ „Realitätseffekt“ einen „Historizitätseffekt“ bezeichnen könnte: Durch die Häufung vermeintlich unwichtiger Details – das Kochen in schäbigen Gemeinschaftsküchen, das Flicken kaputter Fischernetze, das Schließen rostiger Metalltore – scheint das Vergangene tatsächlich noch einmal greifbar zu werden. Dazu tragen auch Setdesign und Choreographie bei: Die Kulissen wirken nie wie angemalte Studio-Dörfer, und man glaubt nicht ständig, die Komparsen müssten gerade den Ruf erhalten haben, sich in Bewegung zu setzen. Häufig lässt Wang Xiaoshuai eine steife Brise durch seinen Film fauchen, als wäre sie Symbol für den rauen Wind des Wandels. Doch letztlich dienen ihm die spektakulären Effekte von Deng Xiaopings „Vier Modernisierungen“ vor allem der Charakterisierung seiner Protagonisten: Anders als der Zuschauer bleiben sie dem Wandel gegenüber blind. Aus der Zeit gefallen und in Trauer aufgelöst, scheinen sie lediglich auf ihr Ende zu warten. Oder glimmert vielleicht doch noch ein Funken Hoffnung?