„The New World“ (2005) von Terrence Malick
Virginia, die Neue Welt, April 1607. An der Mündung des James Rivers gehen drei englische Schiffe vor Anker. Sie landen in der Fremde, um sich das gelobte Land Untertan zu machen. Unter den Kolonisten: Captain John Smith (Colin Farrell). Er ist ein Aufrührer aber guter Soldat. Deshalb wird er ausgesandt, um mit den zunächst neugierigen, dann immer begieriger werdenden Ureinwohnern in Kontakt zu treten. Dabei gerät er in Gefangenschaft, soll hingerichtet werden – und wird gerettet: Pocahontas (Q’Orianka Kilcher), die Häuptlingstochter, setzt sich in letzter Minute für sein Leben ein. Die beiden verlieben sich. Doch die Liebe wird nicht halten, denn der König beordert Smith zurück nach England. Er soll weiter die Weltmeere ergründen. Pocahontas bleibt zurück. Und trauert. Bis ein anderer Engländer in ihrem Leben auftaucht.
So – oder so ähnlich – könnte man die Handlung zusammenfassen. Doch einen Film von Terrence Malick nachzuerzählen, sagt noch gar nichts darüber aus, was den Film im Innersten zusammenhält. Noch stärker als sonst streift Malick mit „The New World“ die Rolle des geradlinigen Geschichtenerzählers ab. Seine Handlung folgt nicht dem Weg, den die Filmhochschulen weisen, den die Fernsehsender fordern, den die Drehbuchanleitungen nahe legen. Seine Erzählweise ist überbordend und sprunghaft. Sie ist mit Wiederholungen aufgebauscht und durch Ellipsen zerklüftet. Und wenn Malick kein Geschichtenerzähler ist, dann ist er erst recht keiner, der Geschichte nacherzählt. Deshalb wäre es Beckmesserei, von ihm historische Genauigkeit zu verlangen. Natürlich ist die Liebesgeschichte zwischen Pocahontas und Smith Arbeit am Mythos. Selbstverständlich war auch der Altersunterschied zwischen den beiden in Wirklichkeit viel größer. Aber Malick gibt gar nicht erst vor, Historiographie zu betreiben: Der Name Pocahontas findet kein einziges Mal Erwähnung.
Was will Malick also? Zunächst einmal versucht er mit einem endlosen Fluss berückender Naturgemälde, den Zuschauer in eine Art Hypnose zu versetzen: mit Bildern des klammen, gleißenden, frostigen, blühenden, schlammigen, ungezähmten, erhabenen Landes; mit Bildern im wogenden Gras, im Meer, im tropfenden Wald; mit Bildern, die durch rhythmische Jump Cuts, Schwarzblenden und gleitende Kamerabewegungen einen latenten Rausch erzeugen. Ganz dicht heran rücken die Stimmen der inneren Monologe, der Reflexionen, der Gebete von Pocahontas, so nah, als flüsterten sie direkt ins Ohr. Ganz dicht heran drängt sich das Geräuschspektakel der Natur: das Vogelgekreische und Zikadenzirpen, die flirrende Stille und der tobende Wind. Und dann, immer wieder, wie ein Refrain: Musik. Es tönen die Bläser von James Horner. Es dräut das Vorspiel zu Wagners „Rheingold“. Und es wiegt sanft der Orchester- und Klavierklang von Mozart. Mit einer betörenden Hartnäckigkeit wiederholt Malick das Adagio des 23. Klavierkonzerts, wie es vor ihm nur Bo Widerberg in „Elvira Madigan“ mit dem Andante des 21. Klavierkonzerts getan hat. Vor achtzig Jahren, als das Kino noch nach anderen Formen als dem Erzählkino suchte, gab Friedrich Wilhelm Murnau seinen Filmen Beinamen wie „Symphonie“ oder „Song“. „The New World“ ist eine hypnotisierende Symphonie aus der neuen Welt.
Der Film ist aber gleichzeitig als großes, allegorisches Filmpoem angelegt. Malick, wegen seiner eremitenhaften Öffentlichkeitsscheu so etwas wie ein filmischer Thomas Pynchon, schwingt sich auf zum Walt Whitman des Kinos. Sein Film ist das paradoxe Werk eines romantischen Utopisten, der um die Unerfüllbarkeit seines Traumes weiß. Pocahontas – das ist bei ihm die Personifizierung der unbefleckten Schönheit des virgin land Virginia. John Smith, der wie eine Christus-Figur durch das Land streift, steht ein für die große Utopie. Er nennt das Indianermädchen „mein Amerika“. Er glaubt an die Vermählung von Mensch und Natur, von Emigranten und Eingeborenen. „Wir werden eine wahre Gemeinschaft errichten“, sagt er – eine Gemeinschaft frei von Faulheit, Gier und Egoismus. Wenn es nach Smith ginge, wäre das Aufeinandertreffen der Kulturen kein Kampf sondern ein Umkreisen, Abtasten, Streicheln. Immer wieder gleiten die Hände von Smith und Pocahontas langsam über den Körper des anderen. Der gute Weiße und die noble Wilde – soweit wagt sich der Film ins Reich der gutgläubigen Stereotype.
Doch Malick ist kein Dummkopf, der ein blindes Zurück für möglich hielte. In seiner Vorstellung der neuen, der besseren Welt verbirgt sich eine stille Amerika-Kritik. Über all den idyllischen Bildern liegt ausgebreitet der Schleier des Wissens: Smiths amerikanischer Traum wird nie in Erfüllung gehen. Irgendwann krachen die Kanonen, fliegen die Äxte, klaffen die Wunden. Malick blickt voll Wehmut zurück auf das Versprechen, das Amerika nie einlösen konnte. Deshalb muss auch hier, wie schon in „Badlands“ und „Days of Heaven“, die überirdische Liebe an der prosaischen Gesellschaft scheitern. Pocahontas kommt nach England, wo die Bäume getrimmt, die Tiere in Käfige gepfercht, die Menschen in Korsette und Rüstungen gezwängt sind. Auch wenn sie sich an der Seite von John Rolfe (Christian Bale) kurzzeitig glücklich wähnt – am Ende wird ihr Kontakt mit der Zivilisation tödlich sein.
Der erratischen schwarzen Tafel aus Kubricks „2001“ gleich ruht „The New World“ wie ein Findling im amerikanischen Gegenwartskino. Wahrscheinlich muss man bis zu Murnaus „Tabu“ zurückgehen, um einen Film von ähnlicher Schönheit und Naivität, romantischer Utopiegläubigkeit und beinahe sentimentaler Sehnsucht zu finden. Natürlich sieht das Kino der Massen anders aus. Doch soll das ein Prüfstein für einen Visionär wie Malick sein? Mit „The New World“ ist er an eine Wegscheide gelangt, an der sich sein Publikum in ein paar glühende Bewunderer und viele Verächter teilen wird. Der Hypnotiseur, der Eremit, der Naturverehrer: ein filmischer Schamane. Terrence Malick ist endgültig Kult geworden.