Westleipzig für Ostberlin. Thomas Brussigs Wende-Roman „Helden wie wir“ wird verfilmt. Ein Besuch am Set (1999)

Westleipzig für Ostberlin
Thomas Brussigs Wende-Roman „Helden wie wir“ wird verfilmt

Die wichtigste Frage zuerst: Wird ER gezeigt? ER, der heimliche, der wahre Protagonist von Thomas Brussigs Roman „Helden wie wir“? Wird der Regisseur Sebastian Peterson die „kleine Trompete“ des Ich-Erzählers Klaus Uhltzscht, „das größte Glied, das Sie je gesehen haben“, in seiner Verfilmung angemessen ins Bild rücken? Die Antwort lautet: Nein! „Wir werden ihn nie sehen!“ Sagt der Regisseur. Einmal gepixelt, ansonsten wird geschnitten. „Der Film ist keine Penis-, sondern eine Liebesgeschichte. Er wird viel leiser sein als der Roman.“

Es ist ein zwitschernder Frühlingstag. Die Wolken hängen wie heruntergezupfte Zuckerwatte am blauen Himmel. Und die Sonne lächelt. Im Stadtteil Lindenau, Westleipzig ist Lichtenberg, Ostberlin auferstanden. Back in the summer of ’89. Die Häuserfassaden sind hier noch unsaniert, und unter dem herabblätternden Putz lugen die Ziegelsteine hervor. Arbeitergegend. Die Straßenlaternen wurden von den Ausstattern im DDR-Design verkleidet, und die Nostalgiker von den „Trabant-Pionieren Leipzig“ haben ihre stotternden Zwei-Takter vorbeigebracht. Leihweise. Die Zufahrt wird von zwei Polizeiwagen mit Blaulicht abgesperrt. Vorbereitet wird eine Szene, in der Klaus Uhltzscht zum Hof seiner Freundin Yvonne läuft. An den Fenstern haben Anwohner Kissen auf ihrem Sims ausgebreitet und schauen zum Straßenende, wo das Filmteam postiert ist. Der Aufnahmeleiter, ein glatzköpfiger Hüne, kann natürlich keine Zuschauer im Bild gebrauchen und brüllt in die Straße hinein: „Könnten Sie bitte von den Fenstern weggehen!“ Bevor der Filmtroß nach Leipzig kam, wurden Szenen in Berlin abgedreht: im „Ballhaus“ in der Chausseestraße, im ehemaligen Stasihauptquartier, im Klinikum Buch. Auf der Swinemünder Brücke wurde die Maueröffnung nachgestellt. In einigen Tagen kehren sie nach Berlin zurück. Nach Lichtenberg. Diesmal das echte.

Thomas Brussigs Roman „Helden wie wir“ ist ein Bestseller. Die Auflage liegt bei 190000 Stück. Die Übersetzungslizenzen sind in 12 Länder verkauft – von Litauen bis Korea. Mittlerweile haben über 30 deutschsprachige Theater die Dramatisierung auf die Bühne gebracht. Und Götz Schubert hat als Klaus Uhltzscht am Deutschen Theater donnernden Applaus kassiert. Aus diesen Gründen: ein Stoff fürs Kino! Aber läßt sich die saftige Satire über Mief und Muff unter DDR-Spießern so einfach zum Film umkrempeln? „Eine gute Literaturverfilmung hat die Aufgabe, der Vorlage gerecht zu werden und gleichzeitig filmisch zu sein“, sagt Sebastian Peterson. Dabei will er nicht nur die Liebe von Klaus und Yvonne in den Mittelpunkt rücken. Uhltzscht, der verklemmte Angeber, soll sympathisch werden! Und: „Der Roman arbeitet viel mit sprachlichen Witzen, wir werden mehr mit verblüffenden Filmeffekten arbeiten.“

Eigentlich war Peterson gar nicht erste Wahl, auch nicht zweite. Brussig hätte gerne Terry Gilliam gehabt. Auch Detlev Buck war im Gespräch, hat aber abgelehnt. Die Produzenten von Senator-Film hatten sich vorgenommen, DEFA-Look oder Margarethe-von-Trotta-Behäbigkeit („Das Versprechen“) zu vermeiden. Eine lange Suche begann. Irgendwann entdeckten sie Peterson und seinen preisgekrönten Kurzfilm „Fake“ – und waren überzeugt. Die historische Rekonstruktion des Sets, wie an diesem Tag, ist eigentlich Ausnahme. „Oft nehmen wir Dokumentarmaterial und inszenieren unsere Schauspieler hinein. Das hat den Vorteil, daß wir auf jeden Fall authentisch sind, weil wir genauso sein müssen wie das Dok-Material. Gleiches Szenenbild, gleiche Kleidung, gleiche Kameratechnik“, erklärt der Regisseur. „Durch Montage wollen wir das so miteinander kombinieren, daß man gar nicht sieht, was dokumentarisch und was inszeniert ist.“ Außerdem sollen Videofilm, Super-8, 16- und 35-mm-Material ineinandergeschnitten werden. Dazu eine Zeichentricksequenz im Stil von russischen Animationsfilmen der 60er und 70er Jahre. Ein Formatmix. Ein Kessel Buntes. Peterson, 1967 in Hamburg geboren, ist 1990 nach Berlin gezogen, um an der Filmhochschule in Potsdam zu studieren. Den Abschluß hat er noch nicht in der Tasche. Und schon der Mann fürs 5-Millionen-Budget? „Es wäre sicherlich vermessen, wenn ich sagen würde, daß mich das nicht unter Druck setzt.“

Ein schwarz glänzender BMW ist plötzlich in die Straße gebogen. Der Aufnahmeleiter schreit in sein Funkgerät: „Der Fahrer soll gleich wieder einsteigen und wegfahren!“ Münchner Kapitalistenkarossen sind in der DDR einfach zu selten gewesen. „Alles auf Anfang und völlige Ruhe, bitte!“ ruft der Aufnahmeleiter jetzt. Daniel Borgwardt alias Klaus Uhltzscht steht mit dem Rücken zur Kamera: braune Schuhe, braune Hose und die Arme eingegipst. „Noch als ich neunzehn war und meine beiden Arme für sechs Wochen in Gips lagen, übernahm sie (die Mutter) das Arschwischen. Teufel, ja! Mir ging es wie einem Zweijährigen – aber was hätte ich ohne sie getan?“ Seite 24 im Roman. Borgwardt läuft los. Kameramann und Tonmann rennen hinterher.

Nicht nur für Peterson ist es das Spielfilmdebüt. Auch die beiden Hauptdarsteller Daniel Borgwardt, 24, und Xenia Snagowski, 22, sind Novizen im Kinowunderland. Beide studieren noch an der Schauspielschule in Rostock. Neben ihnen werden nur Schauspieler aus dem Osten zu sehen sein: Udo Kroschwald und Volkmar Kleinert, Kirsten Block und der alte Ost-Indianer Gojko Mitic. Der Regisseur ein Debütant, die Besetzungsliste ohne Stars – die Produzenten pokern hoch. „Unser Star soll die Geschichte sein. Und die eigene Machart des Films wird sich herumsprechen“, sagt der Producer Alfred Holighaus, lächelt siegesgewiß und zieht am Stummel seiner dicken Zigarre. „Wir haben auch über Leute wie Wolfgang Stumph oder Manfred Krug gesprochen, uns aber dann gesagt: Wir wollen kein Starkino.“

Am Set ist an diesem Tag auch Thomas Brussig, der Romanverfasser und Drehbuchautor. In brauner Wildlederjacke steht er am Straßenrand und betont, warum er keine Angst hat, sein Werk könnte verhackstückt werden: „Wenn ein Autor erwartet, daß aus seinem Buch die Bilder gemacht werden, die ihm im Kopf herumgehen, sollte er auch selbst Regie führen. Ich finde interessant, was der Regisseur vorhat, und sehe dem mit Gelassenheit entgegen. Außerdem habe ich den Roman auch geschrieben, da war ich unbekannt. Warum soll ihm nicht dasselbe glücken?“ „Helden wie wir“ wird nicht an einem Donnerstag, das ist ungewöhnlich, sondern an einem Dienstag in die Kinos kommen. Stichtag: 9. November 1999 – der 10. Jahrestag des Mauerfalls.

 

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