Drifter (Sebastian Heidinger, 2008)

„Drifter“ von Sebastian Heidinger (2007)

„Gefällt Ihnen das Leben so?“, fragt die Ärztin. „Nee“, sagt Aileen. Mit dieser knappen Antwort bringt sie ihr graues Dasein schonungslos auf den Punkt: Aileen ist heroinsüchtig. Sie geht auf der Kurfürstenstraße anschaffen. Sie ist 16 Jahre alt. Aileens Gesicht ist bleich, der Körper mager und krank. Ihre Augen blicken meist stumpf in die Welt. Gemeinsam mit Angel (23) und Daniel (25) ist sie die Hauptfigur in Sebastian Heidingers Dokumentarfilm „Drifter“, der fast 30 Jahre nach „Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ noch einmal die Welt der Drogenabhängigen, Strichjungen und Prostituierten Berlins porträtiert. Bereits 2008 lief der Film auf der Berlinale. Erst jetzt schafft er es in die Kinos. Doch besser spät als nie.

Der englische Ausdruck „Drifter“ bezeichnet eine ziellos herumziehende Person ohne Wurzeln. Aileen, Angel und Daniel sind Treibholz im Strudel der Stadt, die von der Strömung mal hierhin, mal dorthin getrieben werden. Mit kleinen Tricks schlagen sich durch das herbstlich-kalte Berlin. Der öffentliche Raum wird für  kurze Zeit in Beschlag genommen: zum Waschen, zum Ausruhen, zum Heroinsetzen in der Bahnhofstoilette. Der Film hält das interessiert fest und nähert sich dabei immer wieder der Ekel-Grenze. Einmal sind wir quälend lange dabei, wie eine Arzthelferin Aileen Blut abnehmen will – und dabei die Nadel immer wieder erfolglos in Venen stößt, die vom Heroinkonsum vernarbt sind.

Dennoch hat man an keiner Stelle den Eindruck, dass der Regisseur mit stolzgeschwellter Brust zur heroischen „Seht her, ich war dabei!“-Geste ausholt. Er meidet alles Sensationsgierige. Zudem umgeht er die Charles-Dickens-Falle der nett gemeinten Sentimentalisierung großstädtischer Verwahrlosung. Allein das ist schon bemerkenswert für einen Debütfilm. Darüber hinaus gelingt es dem dffb-Absolventen Heidinger, jegliches Naserümpfen vor der klein- und kleinstbürgerlichen Welt zu vermeiden, in die er seine Zuschauer hineinzieht. Heidingers Empathie ist die des aufmerksamen Beobachters, der keine Tränen kullern und keinen wohligen Schauder den Rücken runter laufen lassen will – die Empathie rührt allein aus der Anerkennung, die er den drei traurigen Existenzen dadurch zukommen lässt, dass er sie ernst nimmt.

Diese Achtung zeigt sich auch – und gerade – in der Form [kursiv] des Films, die sich selbst zum Verschwinden bringen möchte und alle Aufmerksamkeit dem Inhalt widmet. Dabei macht er es dem Zuschauer manchmal nicht leicht. Die Sätze der drei Hauptfiguren laufen inhaltlich oft ins Leere. Gelegentlich versteht man sie akustisch nicht, weil sich der Lärm der Großstadt zuviel Platz auf der Tonspur verschafft. Manche Szenen begreift man erst später, wenn wichtige Informationen nachgereicht wurden. Abgesehen von den Namen der drei Hauptpersonen verzichtet Heidinger auf erklärende Einblendungen. Eine kommentierende Stimme aus dem Off fehlt. Interviews gibt es keine. Und die Kamera öffnet den Protagonisten auch darüber hinaus keinen Vorhang zu einer großen Bühne, auf der sie sich als Darsteller ihrer Selbst inszenieren könnten – ein Vorwurf, den man jüngeren Großstadtdokumentationen wie „Prinzessinnenbad“ und „Draußen bleiben“ machen muss.

Heidingers Dokumentation ist damit die ästhetische Antithese zum verspielten Exzess des Subgenres Drogenfilm. Wo Filme wie „Trainspotting“, „Requiem for a Dream“ oder „Spun“ ihr Thema als Spielwiese für formale Purzelbäume nützen, setzt Heidinger auf eine nüchterne Sparsamkeit der Mittel und eine beinahe rohe Räudigkeit des Looks. Das sieht nicht gut aus, ist aber die einzig angemessene Haltung dem Thema und den Figuren gegenüber. Wer Angst hat, dass Heidingers interessierte Distanz die Gefahr der Verharmlosung birgt, sei beruhigt: Der Regisseur kann schon deshalb auf Warnungen verzichten, weil Aileen, Angel und Daniel ihr beschädigtes Leben selbst als reparaturbedürftig erkennen. Einmal bleibt die junge Prostituierte Aileen vor einem Spiegel stehen und erschrickt dabei vor ihrem eigenen Abbild: „Ick seh’ ja so verranzt und eklig aus – ick würd’ mich selber och nich’ mitnehmen, ganz ehrlich. Und wenn, dann nur für’n Zehner.“

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