Sully (Clint Eastwood, 2016)

Captain, mein Captain

Der etwas andere Superhelden-Film: Clint Eastwood huldigt in seinem humanistischen Katastrophenmelodram „Sully“ der heroischen Landung eines abstürzenden Flugzeugs auf dem Hudson River. Sein Film versucht sich dabei als filmische Traumatherapie 15 Jahre nach 9/11.

Am 15. Januar 2009 startet am Flughafen LaGuardia ein Airbus A320 mit 155 Menschen an Bord in den kalten Himmel über New York. Kurz nach dem Abflug gerät die Maschine in einen Schwarm Wildgänse. Sofort fallen beide Motoren aus; das Flugzeug beginnt abzustürzen. Da trifft der 57-jährige Pilot Chesley „Sully“ Sullenberger die glorreichste Entscheidung seines Lebens: Er versucht weder, nach LaGuardia zurückzukehren, noch einen anderen Flughafen in der Nähe anzusteuern. Stattdessen landet er sein Flugzeug heroisch auf dem eiskalten Hudson River. Alle Insassen werden gerettet.

Im Laufe seines Films „Sully“ kommt Regisseur Clint Eastwood mehrfach auf diesen spektakulären Moment zurück, dessen mediale Aufbereitung vor knapp acht Jahren um die Welt ging. Er zeigt ihn aus der Perspektive der Reisenden, der Flugbegleiter, der Piloten. Er zeigt aber auch – und vor allem – was sich daran im Anschluss abspielen wird. In den Zeitungen und auf den allgegenwärtigen Fernsehmonitoren wird Sully, vom schnauzbärtigen Tom Hanks sehr Tom-Hanks-artig verkörpert, als Held gefeiert. Doch Sully selbst hat mit psychologischen Folgen zu kämpfen: Er schreckt aus Alpträumen hoch, versinkt in horrenden Tagträumereien, steht immer wieder ratlos vor dem Spiegel. Von dort blickt ein gealterter Mann mit grauen Haaren zurück.

Clint Eastwood ist jetzt 86 Jahre alt. Alternde Männer begleiten ihn als Thema schon seit mehreren Jahrzehnten. Man denke an seinen legendären Spätwestern „Erbarmungslos“ (1992), „Space Cowboys“ (2000) oder die Rassismus-Parabel „Gran Torino“ (2008). Der Verlust von Vitalität, das Schwinden von Präzision, die zunehmende Vereinsamung – all das nimmt er mit der ihm eigenen ironischen Melancholie zur Kenntnis. Anders als der Schriftsteller Philip Roth, ein anderer vom Altern des Mannes besessener Amerikaner, treibt ihn das aber nicht zur Verzweiflung. Klar, man sieht Sully mehrmals kurzatmig durch die Straßen von New York joggen. Aber im entscheidenden Moment sind es halt doch seine Erfahrung aus abertausenden von Flügen und der ruhige Professionalismus des Alters, dem die Insassen ihr Leben verdanken.

Eastwood beschwört dabei die Kraft der Intuition – das, was der Psychologe Gerd Gigerenzer als „Bauchentscheidung“ bezeichnet: Sully hat genau 208 Sekunden für die Landung auf dem Hudson River und noch viel weniger für die Entscheidung, sich auf diese irrwitzige Rettungstat überhaupt einzulassen. Dabei lässt es sich Eastwood nicht nehmen, ein flammendes Plädoyer gegen allzu großes Vertrauen in Computer und Algorithmen einzuflechten. Die nationale Behörde für Transportsicherheit NTSB setzt ihre Ermittler auf Sully und seinen Co-Piloten Jeff Skiles (Aaron Eckhart) an. In packenden verbalen Duellen am Verhandlungstisch muss Sully seine Bauchentscheidung gegen das alternative Rettungsszenario verteidigen, das die Flugsimulatoren der NTSB nahelegen. Transhumanisten mögen Eastwoods Botschaft als naiv und betulich abtun. Andere werden sie als warmherziges Lagerfeuer für ihre erkalteten Seelen in der digitalen Welt begreifen. Dass Eastwood in seinen Action-Sequenzen selbst nicht ohne computergenerierte Spezialeffekte auskommt, steht dann auf einem anderen Blatt.

Nachdem Eastwood in seinem Vorgängerfilm „American Sniper“ (2014) einen Scharfschützen auf widerwärtige Weise zum Militärhelden verklärt hatte, huldigt er nun also einem Helden des Alltags, der vor Pflichtgefühl, Ordnungsbewusstsein und Ehrlichkeit nur so strotzt. Mehr noch: Man kann „Sully“ als einen menschlichen Superhelden-Film verstehen. Als wollte uns Eastwood zurufen: Leute, was braucht ihr Captain America, wenn ihr Captain Sully habt? Der Sehnsucht nach dem Superhelden, die der Film zu befriedigen versucht, spürt er selbst mit leisem Humor nach: Wildfremde Menschen küssen Sully auf die Wange, umarmen ihn, applaudieren ihm. St. Sully, der Heilige vom Hudson, ist das blitzsaubere Gegenstück zu Denzel Washingtons verkrachtem Alkoholiker-Piloten aus Robert Zemeckis „Flight“ (2012), ein Film, der ebenfalls die Untersuchungen im Anschluss an eine abenteuerliche Notlandung thematisiert. Über die mehrfach eingestreuten Telefonate mit seiner Frau Lorraine (Laura Linney) erfahren wir zwar, dass Sully, wie so viele Amerikaner, Schulden gemacht hat. Ansonsten aber verkörpert er das Sicherheit verheißende moralisch Gute in einer als unsicher empfundenen Welt.

Und damit wären wir dann auch bei der entscheidenden Funktion des Films: „Sully“ kam am 9. September in die amerikanischen Kinos, zwei Tage vor dem 15. Jahrestag von 9/11. Von der ersten Einstellung an macht Eastwood klar, dass wir es hier mit einer 9/11-Aufarbeitung zu tun haben. Nach der Rettungstat sagt ein Kollege von Sully, es sei eine Weile her, dass New York eine derart gute Nachrichten erhalten habe – vor allem mit einem Flugzeug darin. Eastwoods Verfilmung des realen Heldenstücks mobilisiert eine Menge amerikanisches Pathos für einen guten Zweck: Sie soll helfen, Wunden zu schließen – Wunden, die seit 15 Jahren nicht verheilen wollen.

https://www.spiegel.de/kultur/kino/sully-mit-tom-hanks-der-heilige-vom-hudson-river-a-1123384.html

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