Vater und Sohn (Alexander Sokurow, 2003)

“Vater und Sohn” by Alexander Sokurow (2003)

Ja, sicher, man könnte versuchen, die Handlungsfetzen dieses Film zusammenzuklauben. Man könnte erwähnen, dass hier ein Vater mit seinem Sohn ein Dachgeschossapartment bewohnt, wo er von jungen Männern Besuch bekommt. Man könnte darauf hinweisen, dass der Vater, ein ehemaliger Offizier, einmal seinem Sohn, der Soldat ist, in die Kaserne folgt. Und man könnte hinzufügen, dass der Sohn anfangs von seiner Freundin verlassen wird. Aber was würde das besagen? Welchen Sinn hätte es, einen Plot zu suchen in einem Film, der viel eher verschlüsselte Poesie und symbolistisches Gemälde sein will als eine Erzählung mit Einführung, Hauptteil und Schluss? Zumal die sicheren Aussagen bald an ihre Grenzen stoßen und in Vermutungen übergehen müssen.

Vater und Sohn verbindet eine tiefe Zuneigung, die ans inzestuöse grenzt. Man ahnt, dass der Abschied, die Trennung, das Ende wie ein Damoklesschwert über ihrer Beziehung schwebt. Der Vater, Anfang vierzig und krank, geht dem Tod entgegen. Seine Lunge wurde verletzt im Krieg (gegen die Tschetschenen?). Der Sohn, noch jung, wird den Vater verlassen müssen, sich ins eigenen Leben wagen. Der Film beginnt mit einem Körperknäuel aus nacktem Fleisch: Vater und Sohn innig verbunden. Am Ende sitzt der Vater auf dem Dach. Alleine. Er blickt in die Ferne. Dazwischen immer wieder Momente, in denen sich die beiden Auge in Auge gegenüber stehen, sich abtasten mit Blicken und Berührungen. Zwei schöne Männer. Zwei muskulöse Körper. Überirdisch scheint ihre Liebe. Nicht umsonst durchzieht ein deutlich religiöser Unterton diesen Film. Einer Pietà gleich hält der Vater seinen Sohn im Arm. Er trägt ihn auf den Schultern, wie es der Heilige Christopherus mit dem Christuskind tat.

Alexander Sokurow, der bedeutendste russische Regisseur unserer Zeit, ist ein Enigmatiker. Seine Filme sind ebenso schön wie verrätselt. „Vater und Sohn“ bildet da keine Ausnahme. Der Film ist eine vieldeutige Elegie. Ein komplexes Bildgedicht, das verschiedene Bedeutungsschichten übereinander legt. Nach dem Meisterwerk „Mutter und Sohn“ (1997) stellt dieser Film den zweiten Teil einer Trilogie über die Familie dar, die mit „Zwei Brüder und eine Schwester“ ihren Abschluss finden soll.

Von Anfang an liegt ein rauchiger Schleier, ein sfumato, über den Bildern wie in Leonardos Gemälden. Sonnenlicht flutet seitlich in die Räume als wäre es flämische Malerei. Alles ist getränkt mit einem Stich ins Gelbe. Und wie in vielen Filmen Sokurows gibt es auch hier die verzerrten Bilder, optisch manipuliert. Der Film versetzt uns in eine irreale Welt. Und es fällt schwer, sich in ihr zu verankern. Als wollte Sokurow ein stabiles Gefühl für Zeit untergraben, zieht er Gegenwart und Vergangenheit zusammen. Er durchsetzt seinen Film mit Anachronismen ― in der Kleidung, der Ausstattung, der Musik. Meist wehen aus der Ferne Variationen auf Tschaikowsky herüber. Doch manchmal stampfen leise elektronische Beats. Traumsequenzen und Erinnerungen schwimmen wie Treibgut auf dem Strom der Bilder, der ruhig und wehmütig und mysteriös dahinfließt. Auch die Orientierung im Raum wird erschwert, weil Sokurow sich Dinge erlaubt, die im klassischen Erzählkino auf Höchststrafe verboten sind: Achsensprünge; das Fehlen von establishing shots; Blicke, die nicht durch passende Gegenschnitte aufgefangen werden. Der Film spielt in einer Stadt am Meer. Doch ihren Namen erfahren wir nie. Sie soll nicht festzumachen sein an einem realen Ort (auch wenn sie recht eindeutig als Lissabon zu erkennen ist).

Ja, sicher, man kann diesen Film beschreiben. Aber wer ihn nicht gesehen hat, weiß nichts über ihn. 24 Bilder pro Sekunde sagen mehr als 1000 Worte. Doch diese Bilder bergen eine Gefahr: Man könnte sich in ihrem Labyrinth auf eine unendliche Bedeutungssuche begeben und dabei verloren gehen. Das Wagnis dieses Films ist auch das Wagnis des Zuschauers: sich hineinzutrauen in eine Filmwelt, in der endgültige Antworten nicht zu haben sind. Sokurows Werke sind zu hermetisch. Oder zu offen. Je nachdem.

Was sie bedeuten? „Nicht alle Fragen haben Antworten,“ erklärt der Vater dem Sohn.

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