„Was nützt die Liebe in Gedanken“ (2004) von Achim von Borries
„Glaubst Du daran: die große Liebe?“ fragt das Mädchen. Der Junge, der ihr gegenüber hockt, nickt. Ja, daran glaubt er wie an kaum was anderes. Die große, die kompromisslose, die unbedingte Liebe! An diesem lauen Sommerabend des Jahres 1927, an dem Paul, der Gymnasiast, Proletarier und verfrühte Dichter, auf der Veranda eines Brandenburger Landhauses Hilde gegenübersitzt, der allerliebsten, großbürgerlichen Schwester seines besten Freundes, an diesem Abend schwört er sich, für die Liebe zu töten und zu sterben.
Was Paul (Daniel Brühl) dabei nicht ahnt: Hilde (Anna Maria Mühe) ist gar nicht so süß und brav und unschuldig, wie sie aussieht. „Für mich gibt’s nicht ’ne ganze Hand voll, für mich gibt’s ein ganzes Land voll“, sagt sie keck über die Männerwelt da draußen. Kein kunstseidenes, ein echtseidenes Mädchen aus gutem Hause. Und was Günther (August Diehl) zwar ahnt, aber nicht wahrhaben will: Hilde spielt mit Hans herum, einem Koch aus Berlin, der doch eigentlich mal der Liebhaber ihres Bruders war.
Vielleicht hätten sich die beiden etwas vorsichtiger ausgedrückt, wenn sie diese ungute Konstellation gekannt hätten. Aber zum Zeitpunkt als sie dahinterkommen, haben Günther, der Selbstbewusste, und Paul, der Introvertierte, längst ihren „Selbstmörderclub“ ins Leben gerufen. „Liebe ist der einzige Grund, für den wir zu sterben bereit sind“, haben sie sich in ihre Statuten geschrieben. „Wir verpflichten uns, unser Leben in dem Augenblick zu beenden, in dem wir keine Liebe mehr empfinden. Und wir werden all diejenigen mit in den Tod nehmen, die uns unserer Liebe beraubt haben.“ Manchmal ist die Liebe härter und kälter als der Tod.
Die Handlung greift auf einen Kriminalfall zurück, der seinerzeit die Weimarer Republik erregte. Die „Steglitzer Schülertragödie“ von 1927 ist ein historischer Stoff aus jenem merkwürdigen Kriminellenjahrzehnt, das die Berliner Ringvereine, die Serienmörder Haarmann und Kürten, die Brüder Sass und „Dr. Mabuse“ hervorgebracht hat. Einerseits haben wir es also mit einem Historienfilm zu tun. Andererseits setzt der Regisseur Achim von Borries zwischendrin immer wieder gezielte anachronistische Nadelstiche. Da steht ein junger Mann am Grammophon und schiebt für Sekunden die Schellackscheiben vor und zurück ― scratching Jahrzehnte vor Grandmaster Flash in der Bronx. Ein Typ, der mit einer Knarre herumfuhrwerkt, trägt den Namen Django ― als hätten sie damals schon Italowestern gekannt. Einmal sieht man ein Flugzeug am Himmel Kondensstreifen ziehen ― muss eine ziemliche Seltenheit gewesen sein im Jahr, als Charles Lindbergh den Atlantik überquerte. Ironische Verfremdungseffekte sind das, mit denen der Regisseur sagt: Nein, ich heiße nicht Joseph Vilsmaier. Nein, ich mache kein kostbares Kostüm-Kulissen-Kino. Das alte, mondäne Berlin, die Goldenen Zwanziger Jahre, das Jazz Age, der ganze Fundus über dem längst eine dünne Schicht von Kitsch liegt ― auf das alles greift der Film nur sparsam zurück.
Aber mit dem Begriff „Historienfilm“ kommt man diesem Film sowieso nicht auf die Spur. Wenn man seine filmische Essenz destillieren sollte, bliebe als Extrakt vielleicht das altmodische Wort „Stimmung“ übrig: die Stimmung einer herrlichen, melancholischen, dekadenten Sommerfrische bei Mahlow. Die Sonne strahlt. Die Vögel zwitschern. Die gelben Kornfelder Brandenburgs wogen im Wind. Die beiden charismatischen Hauptdarsteller ― Daniel Brühl und August Diehl ― streichen in hellen Anzügen umher, die weißen Hemden weit aufgeknöpft. Irgendwann bringt eine Böe einen Vorhang ganz sanft zum Flattern, als wäre es ein Interieur Adolph von Menzels. Von fern meint man ein Echo zu hören des Films „Menschen am Sonntag“, einem der schönsten der Weimarer Zeit.
Schon deshalb glaubt man seinen Augen zunächst nicht zu trauen, so weit entfernt scheint „Was nützt die Liebe in Gedanken“ von Achim von Borries’ Regiedebüt „England!“. Wo sich zuvor Kälte, bleiche Gesichter und räudige Berliner Hinterhöfe fanden, dominieren jetzt Sommerbilder, gebräunte Körper, Landhäuser und Wohnungen des Großbürgertums. Doch je länger der Film dauert, desto deutlicher zeigt sich die Nähe zum Vorgängerfilm. Das stille Tempo. Die Stimmungsbilder. Die knappen, beinahe nebulösen Charakterskizzen. Die tiefen, fast homoerotischen Männerfreundschaften. Letztlich stehen sich die Filme auch thematisch nahe: Wo zuvor das Leben und Leiden vor dem Sterben zelebriert wurde, wird jetzt das Sterben und Leiden aufgrund der Liebe gefeiert.
Der anfangs so helle Film wird allmählich dunkler. Die Stimmung schlägt um. Vom flirrenden Land verlagert sich das Geschehen in die bedrückende Großstadtwohnung. Und der Absinthrausch verflüchtigt sich in den Katzenjammer. „In dieser Nacht werden wir Rache nehmen“, sagt Paul am Anfang des Films. Rache aus Liebe und Eifersucht. Am Ende fallen zwei Pistolenschüsse. Doch Paul, der Romantiker, lebt. Glaubst du daran: die große Liebe? Ja. Aber noch mehr ans wahre Leben.