Ein hochmoderner Moderneskeptiker. Über Friedrich Wilhelm Murnau (2003)

Ein hochmoderner Moderneskeptiker (2003)

Zur Berlinale-Retrospektive des großen Kinozauberers Friedrich Wilhelm Murnau

Das knapp vier Meter hohe Sandsteingrabmal ist verwittert. Unter den Metallbuchstaben der Inschrift ziehen sich grünblaue Schlieren. Das von Eiben und Rhododendren gesäumte Rasenstück davor, unter dem sich die Gruft mit dem Sarg befindet, ist übersät von Zweigen und welkem Laub. Ein riesiger Baumstupf liegt umgekippt und entwurzelt daneben. Das Grab auf dem Stahnsdorfer Südwestkirchhof, kurz hinter der Stadtgrenze Berlins, dort, wo auch Zille, Corinth und Werner von Siemens ruhen, ist ein trauriges Sinnbild: Friedrich Wilhelm Murnau, der vielleicht bedeutendste Regisseur, den Deutschland hervorgebracht hat, ist in Vergessenheit geraten. Seine Filme sind ─ mit Ausnahme von „Nosferatu“ (1921) ─ selten zu sehen. Die Literatur über ihn, zumal die deutsche, ist dürftig. Selbst gebildete Leute schütteln oft den Kopf, wenn man nach Murnau fragt. Nicht mal ein Ehrengrab hat er bisher bekommen.

Doch wer um den Grabstein herumgeht, sieht den Eingang zur Gruft mit grauen Planen verhüllt: Bis Ende Februar soll das Grab restauriert sein. Ein Anfang? Im Jahr 2001 hatte „Shadow of the Vampire“, ein fiktiver Film über die Dreharbeiten zu „Nosferatu“, Murnau vielen ins Gedächtnis zurück gerufen. Das Berliner Filmmuseum bekam kürzlich den Nachlass als Dauerleihgabe zur Verfügung gestellt. Eine Ausstellung läuft. Und ab morgen beginnt nun die große Berlinale-Retrospektive, begleitet von einem umfangreichen Katalog. Murnau, neben Fritz Lang und Georg Wilhelm Pabst so etwas wie der unsichtbare Dritte im Weimarer Triumvirat, steht vor einer Wiederentdeckung. Ein wichtiges Zeichen der Pflege deutscher Filmkultur.

Murnau (1888-1931) war ein Innovationszauberer, der aus dem Zylinderhut des jungen Mediums Film immer wieder neue weiße Kaninchen springen ließ. In „Phantom“ (1922) setzte er Maßstäbe für das Nachaußenkehren des menschlichen Innenlebens. Die Bilder verschwimmen zu Wunschvorstellungen des Protagonisten. Der Tag fängt an zu taumeln und verfällt in einen Strudel aus knappen Einstellungen und Kamera-Schaukeleien. Eine Häuserfront neigt sich und droht auf den schuldgeplagten Helden niederzustürzen, um anschließend als Schattenwürfe hinter ihm herzujagen. Ja, die Schatten! Sie sollten Murnau bis zum Ende nicht mehr loslassen. Schon gar nicht in „Nosferatu“, dem expressionistischen Urbild aller Horrorfilme. Dort invertiert sich durch Negativprojektion plötzlich die Schattierung der Welt und die Montage bekommt telepathische Züge: In den fernen Karpaten beugt sich der Vampir über sein Opfer; zu Hause, in Norddeutschland, schreckt die Gattin schreiend aus dem Schlaf empor. Murnau, der Magier des Kinos.

„Erfindet bitte etwas Neues, auch wenn es verrückt sein sollte“, hatte der Ufa-Produzent Erich Pommer einmal von Murnau und seinem Team verlangt. Daraufhin zauberten sie einen Stummfilm hervor, der völlig ohne Zwischentitel auskam: „Der letzte Mann“ (1924). „Der perfekte Film braucht keine Zwischentitel“ ─ davon war Murnau überzeugt. Legendär ist die Kamera, die von ihren Fesseln befreit durch den Film glitt und flog. „Der letzte Mann“ ließ Murnaus späteren Studioboss in Hollywood, William Fox, jubilieren und vor ihm in die Knie gehen. Fox, der das Image seines Studios mit Murnaus Namen aufpolieren wollte, raunte nur noch von seinem „German genius“. Murnau verließ Berlin, wohin er 1907 zum Studieren gezogen war und wo er ab 1919 in einer Villa in der Douglasstraße 22 gelebt hatte, und ging nach Los Angeles. Dort entstand „Sunrise“ (1927). Für viele sein Meisterwerk. In der Fachzeitschrift „Sight and Sound“ wurde das Werk kürzlich zum siebtbesten Film aller Zeiten gewählt.

Murnaus Filme sind vom Einfluss des kunsthistorischen Kanons durchzogen: von Altdorfer und Rembrandt über Caspar David Friedrich und Arnold Böcklin bis Wilhelm Busch und Edvard Munch. „Mit Eisenstein und Dreyer gehört er zu den wenigen Filmern, deren photographische Konzeption der Malerei der Museen mehr verdankt als volkstümlichen Bildvorstellungen“, hat Eric Rohmer einmal geschrieben. Das wurde oft damit begründet, dass Murnau, der seinen Geburtsnamen Plumpe abgelegt und sich nach dem oberbayerischen Refugium der „Blauen Reiter“-Künstler benannt hatte, vor dem Ersten Weltkrieg Kunstgeschichte in Berlin und Heidelberg studierte. Doch es war von Murnau auch ein kluger Schachzug, um die Anerkennung des Kinos mit Hilfe einer etablierten Kunstform zu steigern. Am besten ist das zu sehen in „Faust“ (1925). Dort rüstet er die bewegte Photographie mit malerischen Kompositionen und fordert so die klassische Literatur zu einem paragone, einem Wettstreit der Künste, heraus. Von den ersten vier Kamera-Oscars gingen später zwei an Murnau-Filme ─ „Sunrise“ und „Tabu“. Murnau, der Maler des Kinos.

Nur dem Tonfilm stand Murnau immer skeptisch gegenüber. Seine Filme schwiegen. Statt dessen brachte er durch geschicktes Hantieren mit Kameraeinstellung und Montage die Töne im Stummfilm zum Klingen. In „Tabu“ (1931), vier Jahre nach Einführung des Tons bewusst als Stummfilm gedreht, arbeitet sich die Kamera in vier Schnitten an den Mund eines schreienden Mannes heran ─ die „Lautstärke“ des Rufes scheint dabei immer schriller zu werden. Synästhesie nennt man dieses poetische Verfahren. Murnau dirigierte seine Filme darüber hinaus mit musikalischem Gespür für Rhythmus. Darauf verweisen schon die Untertitel von „Nosferatu“ und „Sunrise“: „Eine Symphonie des Grauens“ und „A Song of Two Humans“. Murnau, der Maestro des Kinos.

Magier, Maler, Maestro… Doch damit keine Missverständnisse aufkommen: Murnau war nie ein solitäres Originalgenie. Der auteur ist beim Gemeinschaftskunstwerk Film schon immer ein Ausdruck der Idolatrie bürgerlicher Kunstreligion gewesen. Murnau hatte schlichtweg die besten Leute dieser größten Zeit des deutschen Kinos zur Seite. Die Drehbücher kamen vom begnadeten „Caligari“-Autor Carl Mayer und Fritz Langs Ehefrau Thea von Harbou. Neben ihren Originalgeschichten verwendeten sie Weltliteratur wie Molières „Tartüff“ und das „Faust“-Motiv oder adaptierten deutsche Naturalisten wie Hauptmann und Sudermann. Hinter der Kamera tüftelten Virtuosen wie Karl Freund oder Fritz Arno Wagner. Und vor der Kamera brillierten einige der bekanntesten Gesichter der 20er Jahre: Werner Krauss, Lil Dagover, Conrad Veidt und Emil Jannings. Für „Tabu“ tat er sich sogar mit Robert Flaherty zusammen, dem amerikanischen Urvater des Dokumentarfilms.

Murnau war vernarrt in das modernste aller Medien. Gleichzeitig sind seine Filme durchzogen von einem wabernden Gefühl des Misstrauens gegenüber den Neuerungen der Moderne: der Urbanisierung, des wilden Konsums, der Emanzipation der Frau. Warum dreht jemand in dieser Zeit des rasenden Umbruchs Filme über Vampire und die Pest, über Pakte mit dem Teufel, über einen verfluchten „Brennenden Acker“ (1922)? Warum sind seine Protagonistinnen selbstaufopfernde Neurotikerinnen, brave Mütterchen oder hysterische Femmes fatales? Die Filme spielen in der zeitlichen Ferne des deutschen Biedermeiers und des Mittelalters. Sie entschwinden in die geographische Ferne von Tahiti und des sonnigen Mittelmeers. Sie sind Fluchten aus dem Weimarer Hier und Jetzt.

Doch Murnau war kein Reaktionär. Der Widerspruch von Technikbegeisterung und Moderneskepsis kroch aus den Geschichten vieler Weimarer Filme. Man denke an „Caligari“, an „Der Golem“, an „Metropolis“. Dass diese Diskrepanz bei niemandem stärker ins Auge sticht als bei Murnau, mag daran liegen, dass er ein sensibler Romantiker war und sich dadurch in seinen seismogrammischen Filmen die Erschütterungen dieser Zeit leichter festschreiben konnten. Wer neben der Lust visuell überwältigt zu werden, auch ein bisschen historisches Gespür mitbringt, für den schweigen Murnaus Filme sehr beredt von den Ängsten vor der Modernisierung und den Traumata nach dem Krieg.

Von den 21 Filmen, die er zwischen 1919 und 1931 gedreht hat, sind neun verschollen. Wahrscheinlich für immer. Das ist die eine Tragödie, die man mit Murnau verbindet. Die andere ereignete sich am 10. März 1931. Murnau war an der Pazifikküste unterwegs, als sein Wagen von der Straße abkam und die Böschung hinunterstürzte. Wie James Dean und Jackson Pollock, wie Albert Camus und Roland Barthes wurde Murnau Opfer eines Autounfalls. Im Morgengrauen des nächsten Tages war er tot. Murnau ─ in Bielefeld geboren, gestorben in Santa Barbara ─ wurde nicht älter als 42.

Schreib einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert