Lang lebe der Autor? Der Autor ist tot!
Was taugen Interviewbücher mit Filmemachern? Kritische Anmerkungen zu einem publizistischen Genre ─ aus aktuellem Anlass
Gespräche mit Ingmar Bergman, Gespräche mit Jean-Pierre Melville, Gespräche mit Jean-Luc Godard… Demnächst auf über 600 Seiten: Gespräche mit John Cassavetes. In keiner Kunstgattung ist das Genre des Interviewbuchs so beliebt wie beim Film. Die Neuerscheinungen türmen sich. Die Verlage schieben andere Projekte beiseite. Interviewbücher machen sich breit in der engen Welt der Filmpublikationen. Zeit, sich ein paar Gedanken zu machen über dieses publizistische Genre.
I. Das Mysterium der Technik: Das Kino, da hat Jean-Pierre Melville ganz recht, „besteht nicht nur aus Ideen, sondern aus mechanischen Dingen.“ Anders als die Literatur oder die Malerei ist das Kino ein wuchernder technischer Apparat. Interviewbücher versuchen, den technologischen Nebel zu vertreiben, der um die Filme wabert. Praktiker erklären darin höchstpersönlich, wie ihre Filme entstanden sind: ein „Making of…“ in Retrospektive. Gut, wenn Godard dabei den Gebrauch von Doppelbelichtungen erläutert. Schlecht, wenn Bergman sagt: „Ich erinnere mich nicht gut an diesen Film.“ Dabei wird ein entscheidendes Problem meist übersehen: Sind die Filmemacher überhaupt „zuverlässige Erzähler“ (im literaturwissenschaftlichen Sinn)? „Ich glaube, ein Schöpfer, ein wirklicher Schöpfer hat keine Lust, die Dinge, die er während langer Jahre auf eigene Kosten erlernt hat, publik zu machen“, sagt Melville. Und da dürfte er ziemlich richtig liegen.
II. Das Gesicht in der Masse: Weil das Kino eine technisch so komplexe Angelegenheit ist, gibt es für alles spezielle Experten und noch spezielleren Spezialisten. Gaffer und grip zählen noch zu den bekannteren Berufen. „Film ist näher am Fußball als am Skifahren“, sagt Godard. Keine Einzeldisziplin also, sondern ein Mannschaftssport, bei dem jeder seine Position hat. Das Interviewbuch zieht jedoch aus der gesichtslosen Masse der Abspannnamen einen heraus und versucht dem Film, ein Antlitz zu geben. Der kollektive Charakter des Films wird dabei verschleiert. Der fertige Film scheint das Produkt eines einzelnen. Womit man bei der idealistischen Vorstellung vom alleinigen Schöpfer angelangt wäre ─ in der Sprache des Films: der Autorentheorie.
III. Der Autor als Schöpfer: Man muss das Interviewbuch als ein Begleitprodukt dieser Theorie verstehen. Es ist kein Zufall, dass der Kritiker, der 1954 in seinem Aufsatz „Eine gewisse Tendenz im französischen Film“ erstmals den Begriff cinéma d’auteurs ins Spiel brachte, auch den Klassiker unter den Interviewbüchern verfasste: Francois Truffaut („Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?“). 1957 schrieb Truffaut einen Satz, der nicht bezeichnender sein könnte für seine Bewunderung der Filmgenies: „Ich spreche mich entschieden dafür aus, nicht Filme zu beurteilen, wenn es ums beurteilen geht, sondern Filmemacher.“ In der Literaturtheorie ist der Autor Ende der 60er Jahre gestorben. Barthes und Foucault haben ihn unter die Erde gebracht. Die Filmtheorie hat mitgezogen. Doch in der populären Filmpublizistik ist das anders: Hier hüpft der auteur noch putzmunter auf und ab. Das Subjekt ist noch nicht verloren. Die spätromantische Genieverehrung geht weiter.
Dabei ist ein Ritual zu beobachten, das von fern an die Kunstgeschichte erinnert, an Raphael und Giulio Romano, an Jacques-Louis David und Anne-Louis Girodet: Der junge, vielversprechende Lehrling kniet nieder vor dem alten Meister und stellt ehrergiebigst seine Fragen. Truffaut bei Hitchcock (1966), Cameron Crowe bei Billy Wilder (1999), Tom Tykwer bei Michael Ballhaus (2002) oder eben Olivier Assayas bei Ingmar Bergman. Die Reflexion wird dabei dem Befragten überlassen. Kritik findet nicht statt. Die Bewunderung ist mal besser, mal weniger gut versteckt. Den Interviewern von Bergman brach im Angesicht des Meisters sogar „manchmal der kalte Schweiß“ aus. Ein Schuft, wer böses dabei denkt. Das Interviewbuch ist ein Produkt des Starkults. Dieser Kult geht sogar soweit, dass Godard zu einem kompletten Interview über das Thema Sport gebeten wird ─ unter anderem mit einer Frage wie dieser: „Und wie erleben Sie den Sport heute?“ Wie schreibt Robert Fischer, der Herausgeber des Melville-Interviews? Das in Frankreich bereits 1971 erschienene Buch sei für ihn und seine Generation so wichtig gewesen, „weil Melville und sein Werk in ihm weiterlebten.“
Durch diese Form der Heldenverehrung werden zwei Strategien der Interpretation am Leben erhalten, die andernorts als begraben gelten. Erstens: die Deutung eines Werks anhand der Biographie des Autors. Im Vorwort zum Bergman-Buch raunen die Interviewer: „Sein Werk spricht nur von ihm.“ Tatsächlich? Zweitens: die Deutung eines Werks durch den Autor selbst. Schon 1923 hatte D. H. Lawrence gewarnt: „Trau nicht dem Künstler, trau dem Kunstwerk.“ In Interviewbüchern wird dagegen immer noch unterstellt, dass der auteur die größte Autorität als Interpret seines Werkes besitzt. Passenderweise sagt Bergman an einer Stelle: „Es ist so schwer, Erklärungen über seine eigenen Filme abzugeben.“ Nicht selten müssen seine Ausführungen durch Fußnoten ergänzt oder korrigiert werden. Das gleiche gilt für Melville. Der listige Godard schlägt seinen Interviewern deshalb die Frage wie einen harten Return zurück: „Als Cézanne seinen Apfel malte, nahm er den Apfel und malte ihn, aber ich glaube nicht, dass er große Lust gehabt hätte, einem Journalisten zu erklären, warum er einen Apfel und nicht eine Birne genommen hat.“ Der Filmemacher macht den Film. Das Interpretieren übernehmen Kritiker und Filmwissenschaftler. Dafür sind sie da.
IV. Die Nähe zum Genie: Darüber hinaus sind Interviewbücher, so glauben jedenfalls die Herausgeber, eine Möglichkeit, dem Filmgenius beim Denken zu lauschen. Im Bergman-Interview wurden deshalb selbst abgebrochene Sätze und Pausen vom Tonbandgerät transkribiert. Als hauchte der Befragte im Nachhall der drei Pünktchen noch ein wenig Aura mit aus… Durch die wörtliche Rede wird Nähe zum Starkünstler evoziert. Für einen imaginären Moment wird man zu Tisch gebeten mit den Berühmten und Berüchtigten. Dort bekommt man Aphorismen und Anekdoten zu hören aus der wunderbaren Welt des Films. Man erlebt, beinahe live, die Idiosynkrasien des Künstlers. Es wird freundlich über die Werke anderer Regisseure geplaudert. Man staunt über die Cinephilie von Godard und lässt sich faszinieren von der überbordende Filmlust von Melville. Das flüssige Parlando ─ über August Strindberg (Bergman), Herman Melville (Melville), Anna Kournikowa (Godard) ─ plätschert dahin wie ein Zimmerspringbrunnen. Ein Kaffeeklatsch auf hohem Niveau. Aber nicht mehr.
Vielleicht, und das wäre dann die simpelste Erklärung, werden Interviewbücher aber auch nur deshalb so gerne gedruckt, weil sie billiger sind und weniger harte Arbeit erfordern als eine Studie über ein Genre, einen Stil oder eine Epoche. Der Filmemacher spricht. Und das wird abgetippt. Punkt, aus.
Rui Nogueira: Kino der Nacht. Gespräche mit Jean-Pierre Melville. Alexander Verlag, Berlin, 2002. 278 Seiten. 12.50 Euro.
Jean-Luc Godard: Das Gesagte kommt vom Gesehenen. Drei Gespräche. Gachnang & Springer, Bern, 2003. 127 Seiten. 21.50 Euro.
Olivier Assayas/Stig Björkman: Gespräche mit Ingmar Bergman. Alexander Verlag, Berlin, 2002. 117 Seiten. 19.90 Euro