Frau Bier, bitte beichten Sie: Wie oft haben Sie in Ihrem Film „Open Hearts“ gegen die Dogma-Gebote verstoßen?
Unter keinen Umständen werde ich mit dieser ganzen Beichtgeschichte beginnen!
Warum?
Weil es am Punkt vorbeigeht. Ich habe mich an die Regeln gehalten. Andernfalls hätte ich das Dokument nicht unterzeichnet, in dem ich erkläre, mich dem Dogma gefügt zu haben. Aber wie bei jeder Form von Vorschrift, übertritt man irgendwann die Bestimmungen. Man fragt sich ständig: Ist das schon jenseits der Grenze oder noch akzeptabel? Man kann es durchaus mit religiösen Geboten vergleichen: Man entscheidet für sich selbst und sein eigenes Gewissen, ob man den Geboten gehorcht hat oder nicht. Aber wie in der Religion gibt es auch hier Fundamentalisten, die glauben, man befolge die Vorschriften nicht. Ich hatte deshalb eine große Auseinandersetzung mit der Dogma-Brüderschaft, mit Lars von Trier und Thomas Vinterberg.
Um was ging es?
Sie verschickten eine Pressemitteilung in Dänemark, in der sie erklärten, keine Verantwortung für meinen Film zu übernehmen. Meine Produzentin Vibeke Windelov, die auch Lars’ Filme produziert, und ich haben daraufhin selbst eine Presseerklärung herausgegeben, in der wie sie die „Dogma-Könige“ nannten und uns über sie lustig machten. Ich glaube, dass sie ziemlich sauer auf mich waren ─ und es hatte wohl auch damit zu tun, dass ich nicht beichten wollte.
Sie sind also eine Art Reformatorin, die sich den „Fundamentalisten“ entgegenstellt?
Das kann man so sagen. Ich glaube wirklich an die Regeln. Zu schummeln, halte ich für falsch. Aber ich glaube auch, dass man sich darüber bewusst sein muss, was die Regeln leisten und wo sie irrelevant sind.
Zum Beispiel?
Einige der Regeln sind wirklich albern. Die Vorschrift, dass der Ton immer gemeinsam mit dem Bild aufgenommen werden muss zum Beispiel. Dadurch wird alles unflexibel und ziemlich technisch. Bei den anderen Regeln geht es doch gerade darum, die Technik auf ihr Minimum zu beschränken. Und dann natürlich, dass man in den Credits nicht als Regisseur genannt werden darf! In den letzten Jahren waren die Dogma-Filme vermutlich die Filme mit der größten Publicity für den Regisseur. Da denke ich nur: Haltet die Schnauze und werdet realistisch!
Eigentlich dürften wir Sie deshalb ja gar nicht mit „Frau Bier“ anreden, oder?
Die Auslegung der Regel besagt, dass der Regisseur im Film nicht namentlich genannt werden darf. Auf den Plakaten und im Pressematerial kann er vorkommen. Ein Witz.
Aber man kann auch nachvollziehen, womit die „Fundamentalisten“ nicht einverstanden waren: Es scheint, als wäre Ihr Film am Anfang und am Ende nachträglich farblich bearbeitet ─ was nicht erlaubt ist.
Solange der Film auf 35mm und in Farbe gedreht ist, darf man jedes Filmmaterial verwenden. Wir haben eine wärmeempfindliche Kamera benutzt. Deshalb sieht es aus wie eine bunte Röntgenaufnahme.
Innerhalb der Bewegung mit ihren strengen Regeln entsteht offenbar eine reformistische Gegenbewegung, die die Regeln viel unorthodoxer auslegt. Dazu zählt auch Ihr Kollege Ole Christian Madsen, der Regisseur von „Kira“.
Man muss erkennen, was Dogma bisher geleistet hat ─ und was nicht. Man kann nicht einfach blind neue Filme machen, ohne sich mit den Geboten auseinander zusetzen. Andernfalls wird es zu einem leeren, hohlen Regelwerk. Die Regeln sollten daher nicht geändert, aber gedehnt werden, damit die Filme relevant bleiben und sich weiter entwickeln. Thomas Vinterberg und ich werden deshalb demnächst eine öffentliche, fürs Fernsehen aufgezeichnete Diskussion über die Dogma-Regeln führen.
Vinterberg und von Trier sind also einerseits immer noch Dogma-Fundamentalisten; andererseits haben sie Dogma selbst mittlerweile aufgegeben und andere Filme gedreht. Trotzdem sind Sie in diese Konfrontation geraten. Merkwürdig.
Die beiden fühlten sich provoziert: durch die enorm guten Kritiken; durch die riesigen Zuschauerzahlen ─ obwohl er kein Familienfilm ist, hatte „Open Hearts“ mehr als 500.000 Zuschauer in Dänemark, was ungefähr 8 Millionen Besuchern in Deutschland entspricht; vielleicht auch durch die Tatsache, dass ich vorher Komödien gedreht hatte. Womöglich sogar, weil ich eine Frau bin. Lone Scherfig (mit „Italienisch für Anfänger“ die erste Dogma-Regisseurin, Anm. JH) hatte die Auslegung der Gebote nie infrage gestellt. Ich glaube, dass sie leise, schüchterne Anhänger wollen ─ diesen Ansprüchen habe ich nicht ganz entsprochen.
Waren Sie nicht verärgert? Der Papst kann auch nicht kurz zum Islam konvertieren, dann wieder Katholik werden und dabei gleichzeitig von seinen Gläubigen fordern, den Geboten zu gehorchen.
Natürlich war ich zunächst wütend. Vor allem über das Verschicken der Pressemitteilung. Das ist schlechte Kriegsführung. Als anständiger Kämpfer stellst du dich deinem Gegenüber. Andererseits tue ich mir schwer, das ernst zu nehmen. Vielleicht werde ich ja demnächst ─ wie sagt man in der Kirche? ─ exkommuniziert.
Bis jetzt hat noch kein Regisseur fertiggebracht, einen zweiten Dogma-Filme zu drehen.
Ich bin noch nicht am Ende mit Dogma. Mich interessiert, wieweit man mit dem Narrativen gehen kann. Und es könnte auch interessant sein, das komische Potential von Dogma noch weiter zu untersuchen. Das ist eine der angenehmen Seiten, zu einer jüngeren Dogma-Generation zu gehören: Mit einer freieren und reformistischeren Haltung hält es länger an.
Als eine der Gefahren von Dogma haben Sie das blinde Befolgen der Gebote benannt. Daneben könnte Dogma zum bloßen Warenzeichen verkommen.
In Dänemark ist Dogma mittlerweile Teil des Wortschatzes: Es gibt Dogma-Theater und Dogma-Design. Wenn eine Agentur eine Werbekampagne starten will, wirbt sie mit einer Dogma-Kampagne. Das ist gefährlich, weil es nivelliert. Dogma verkommt dabei zu einem Synonym für „Mangel an Struktur“.