„Paranoid Park“ (2007) von Gus van Sant
Hey, Alex, was ist los mit Dir? Warum sieht man keine Regungen in Deinem zarten Gesicht? Woher diese bleiche Ausdruckslosigkeit, diese Gleichgültigkeit, diese Distanz zur Welt? Warum lässt Du uns nicht näher an Dich ran?
Der Paranoid Park in Portland, Oregon ist ein illegaler Skater-Parcours. Mit eigener Hand haben die Jugendlichen dem schmutzigen Großstadtbeton eine Nische abgetrotzt. Die Stadtverwaltung lässt sie gewähren. Nach dem Unterricht hängt Alex (Gabe Nevins) hier gerne ab, obwohl er sich unter all den wendigen Superskatern eigentlich noch gar nicht gut genug fühlt, auf seinem rollenden Brett. An einem Herbstabend wird er von einem der anderen „Wegwerf-Kids“ zum Eisenbahn-Surfen eingeladen. Während die beiden am Frachtwagon hängen, kommt es zu einem Verbrechen, das selbst den weltentfremdeten Alex im Mark erschüttert. Ein einziger Schlag enthüllt ihm die unendliche Zerbrechlichkeit des menschlichen Lebens. Die Polizei heftet sich daraufhin an seine Fersen.
So ließe sich die Handlung von „Paranoid Park“ zusammenfassen. Doch wer die Geschichte chronologisch ordnet, hat schon massiv eingegriffen in einen Plot, dem man nicht einfach ausrollen kann wie einen Perserteppich. Der Film springt vor und zurück. Schiebt Ellipsen dazwischen. Hält inne. Blickt sich um. Und taucht dann plötzlich wieder an Stellen auf, die man bereits gesehen hat. Die Aufklärung der blutigen Tat steht nicht im Mittelpunkt dieser Erzählung (basierend auf einem Roman von Blake Nelson). Regisseur Gus Van Sant nützt die lose Szenensammlung vielmehr als Anlass, um einen traurigen, faszinierten und sehr aufmerksamen Blick auf Teenager und junge Erwachsene zu werfen, die sich in einem beschädigten Leben zurechtfinden müssen – ein Thema, das ihn seine gesamte Karriere hindurch begleitet und seine jüngsten Filme dominiert, ob Elephant (2003) oder Last Days (2005). Die Eltern von Alex, kurz vor der Scheidung stehend, tauchen in dieser Welt nur als Schemen auf. Die Lehrer ziehen wie Schatten vorüber. Unter den Erwachsenen gewinnt einzig der Kommissar (Dan Liu) an Kontur. Und das will was heißen.
Hey, Alex, ist alles okay? Sehr traurig, wie Du alleine durch die blank gewienerten Schulkorridore schlurfst. Sehr merkwürdig, wie fremd Dir der erste Sex mit Deiner Freundin bleibt. Sehr eigenartig auch, wie Du Schluss mit ihr machst und ihre wortreichen Reaktionen einfach in einem Geräuschwasserfall untergehen.
Anders als Gus Van Sants statischer Vorgängerfilm „Last Days“ über den Selbstmord Kurt Cobains erfordert „Paranoid Park“ vom Publikum keine Kunstanstrengung. Im Gegenteil: Wer ein Minimum an formalem Interesse mitbringt, wird mühelos in die Welt des Films gesogen. Durch ausgedehnte Zeitlupensequenzen und behände gleitende Steadycam-Aufnahmen kreiert Van Sant gemeinsam mit seinem stupenden Kameramann Christopher Doyle einen Rhythmus, der den Zuschauer langsam in einen träumerischen Wachzustand wiegt: eyes wide shut. In stark verlangsamten Bildern fliegen die Skater minutenlang über die Rampe der Halfpipe. Hyperrealistische Detailaufnahmen zeigen, wie Duschwasser über Alex’ Körper rinnt, während er gebrochen in sich zusammensinkt. Super-8- und 35mm-Aufnahmen wechseln sich ab. Und auf der Tonspur breitet Leslie Shatz Tonlandschaften aus, in denen sich sphärische Flüsterklänge mit Alex’ intimen Monologen mischen oder Nino Rotas Filmmusiken zu den Fellini-Filmen „Amarcord“ und „Julia und die Geister“ in Rap oder Beethovens neunte Symphonie übergehen.
In seinen kurzweiligen 85 Minuten kommt Van Sant dem Experimentalfilm beinahe ebenso nahe wie dem Erzählkino. Wie zuletzt „Schmetterling und Taucherglocke“ beweist „Paranoid Park“, dass ergreifende Kinoerlebnisse nicht auf Kosten formaler Wagnisse gehen müssen. Und wie Julian Schnabel versucht auch Gus Van Sant die Bewusstseinszustände seines Protagonisten mit denen des Zuschauers zu verschalten. Natürlich hat es Schnabel mit der visuellen Kunstform Kino einfacher, das Publikum einem Bewusstsein anzunähern, dass auf nichts als den Sehsinn reduziert ist. Um die psychischen Missstände von Alex spürbar zu machen, muss Van Sant die Schraube noch zwei Stücke weiter drehen. Das Experiment mag nicht in jeder Szene zum erwünschten Ergebnis führen. Dennoch ist „Paranoid Park“ viel mehr als ein einfühlsames Porträt: In seinen besten Momenten bringt uns der Film ganz nahe an ein somnambules Bewusstsein heran, das nicht mehr ein noch aus weiß.
Hey, Alex, wo ist Deine Vitalität, wo ist Dein Ausbruchsversuch? Hält Dich das Erlebnis auf den Eisenbahngleisen gefangen? Paralysiert Dich die Angst vor der Aufklärung Deines Verbrechens? Oder bist Du das erkaltete Produkt einer durchrationalisierten Welt? Lass es uns wissen, Alex! Auch wenn wir Dich nicht verstehen – wir leiden mit Dir.